Donnerstag, 26. September 2013

Man kann nicht nicht-erziehen.


 
“Brauchen wir überhaupt Erziehung?” fragten die 68er. Sie sind aus der Mode gekommen. Aber ihre Themen beherrschen noch immer die Diskussion. Wenn vielleicht auch nicht mehr in den Hochschulen, so doch immer noch… im Alltag! Welche Eltern wären nicht hin- und her gerissen? Und gerieten mit Nachbarn und Verwandten nicht immer wieder in Wortgefechte!
 
Man kann nicht nicht-erziehen
 
Die Diskussion ist so mühselig und verwirrend, weil ‚erziehen’ ein Wort von bunt schillernder Bedeutung ist. Kein Wunder. Es ist ein Wort der Alltagssprache, dessen ursprünglicher Sinn etwas mit dem Züchten der Pflanzen zu tun hatte: Noch Bertolt Brecht schrieb eine Stalin-Ode unterm Titel Erziehung der Hirse. Seit der Zeit der Aufklärung, das heißt seit der Ausbildung bürgerlicher Verhältnisse, hat dann das Wort seine heutige umgangssprachliche Vieldeutigkeit erhalten.

Für die alltägliche Verständigung ist eine solche Bedeutungsvielfalt der Wörter kaum ein Mangel, sondern sogar ein Vorteil. Wie es jeweils gemeint ist, geht stets aus dem Zusammenhang hervor, in dem sie ausgesprochen werden – dem Satz, dem Gesprächsverlauf usw. Und im Gespräch wird nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt – das wäre kleinlich und gehört sich nicht.
 
Anders wird es, wenn man das Wort schreibt. Das ist dann nicht mehr ganz alltäglich. Man muss ja eine bestimmte Absicht haben, wenn man schreibt. Man muß also etwas Besonderes aussagen wollen, nichts nur Ungefähres. Und zwar deutlich, bitteschön.
 
Da zeigt sich nun, dass unser erziehen nicht bloß in der Umgangssprache zuhause ist, sondern auch in den oberen Etagen des sprachlichen Ausdrucks – in der Wissenschaft. Doch siehe da, hier ist seine Bedeutung nicht ein bisschen weniger schillernd als im alltäglichen Gespräch! Nun kann sich der Wissenschaftler aber nicht darauf verlassen, dass der Sinn seines persönlichen Wortgebrauchs schon irgendwie „aus dem Zusammenhang hervorgeht“. Die Kritiker lauern, er darf sich keine Blöße geben, und also muss er – definieren. Wissenschaftliche Definitionen von erziehen gibt es eben so viele wie Autoren. (Zu viele, sagen spitze Zungen.)
 
Das liegt daran, dass man zwar das Wort in den Adelsstand der wissenschaft- lichen Diskurse erheben kann; dessen ungeachtet bleibt doch immer die Sache, die gemeint ist, eine gutbürgerliche Angelegenheit unseres – Alltags. Der prosaische Umstand nämlich, dass der Mensch, wenn er heranwächst, hinterher nicht mehr ganz derselbe ist wie vorher. Das Erwachsen eines jugendlichen Exemplars von Homo sapiens zu dem, was wir emphatisch einen Menschen nennen, ist nämlich – anders als bei unsern tierischen Verwandten – nicht einfach eine ‚Entfaltung’ von ererbten ‚Anlagen’. Denn der Mensch hat, außer und über seiner ersten, biologischen Natur noch eine zweite, historische, eine selbstgemachte Natur: er ist nicht nur Naturgewächs, sondern Kulturgeschöpf.
 
Das Hineinwachsen in das Wertesystem seiner gesellschaftlichen Umwelt nennt man eben landläufig seine „Erziehung“. Der Mensch ‚wächst’ nicht einfach, sondern er ‚er’-wächst der Kultur. Und da Träger und Reproduzenten jener Kultur dieser allbereits ‚erwachsen’ sind, ist es nicht falsch zu sagen, dass Kinder von Erwachsenen erzogen werden. Johann Gottfried Herders Kernspruch, dass jeder Mensch nur durch Erziehung zum Menschen wird, war die Grundlage der humanistischen Bildung der letzten zwei Jahrhunderte, und nur Banausen werden das bemängeln.
 
Müssen wir also erziehen wollen?
 
Tasten wir uns also ohne Zorn und Eifer an die Sache heran. Was immer der eine oder andere unter erziehen verstehen mag – über eines wird es wohl keinen Streit geben: „Erziehen“ ist auf jeden Fall eine Form von „zwischenmenschli- chem Verhalten“. Und was immer „zwischenmenschliches Verhalten“ sonst auch noch sein mag: Es ist stets (auch) ‚Kommunikation’.

Kommunikation ist ihrem Wesen nach keine Einbahn- straße, sondern grundsätzlich und immer Wechselwirkung. Subjekt X sendet eine Botschaft an Subjekt Y. Y empfängt sie und wird in seinem Zustand verändert: in-formiert. Die Art und Weise, wie Y die Information aufnimmt, ist ihrerseits eine Botschaft an X: eine Information über eine Information. Denn selbst, wenn Y auf die Botschft von X „überhaupt nicht reagiert“, ist das noch eine Stellungnahme. Und als solche verändert, in-formiert sie wiederum die Zuständlichkeit von X. Und so weiter und so fort.
 
Daher der Elementarsatz der Kommunikationstheorie: Man kann nicht nicht-kommunizieren.
Ob es bezweckt wird oder nicht: Kommunikation ist auf jeden Fall ‚Einfluss- nahme’. Wer niemanden beeinflussen wollte, dürfte mit niemandem kommunizieren. Aber das kann er nicht.
 
Besteht nun zwischen X und Y eine Art Kompetenzgefälle, mag man die Einflussnahme durch den hier Überlegenen „Erziehung“ nennen. Ein solches Gefälle ist zwischen Erwachsenen und Kindern grundsätzlich gegeben – und sei es nur in Gestalt des gesellschaftlichen Rangunterschieds. Daher gilt der Satz: Man kann nicht nicht-erziehen.
 
Wir befinden uns hier an dem einen Ende der umgangssprachlichen Bedeutungsskala von erziehen.
Die Wissenschaft kann (auf diesem Felde) auch nichts anderes tun, als die Alltagsbedeutung des Worts auf ihre Weise auszudrücken: „Erziehen meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“*
 
Wenn einer in diesem Sinne des Wortes sagen würde: ich erziehe, dann spricht er eine bloße Faktizität aus wie etwa: ich habe Schwerkraft. Und wollte einer sagen: ich will nicht erziehen, dann ist das kaum sinnvoller, als sagte er: ich will nichts wiegen. Allenfalls könnte er noch sagen: ich will weniger wiegen (und das wollen viele), oder auch: so will ich nicht erziehen…

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*) Hans-H. Groothoff im Fischer-Lexikon Pädagogik, Ffm. 1964, S. 228)


 

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