Montag, 1. September 2014

Die Mutter im Zweifel.

Geht es um ein totes Kind, einen imaginären Freund oder doch um eine verschwundene Mutter? Das bleibt für den Zuschauer des Films lange in der Schwebe.
aus Die Presse, Wien, 31. 8. 2014

Ich seh, ich seh – was du nicht siehst...
Eine Horrorgeschichte aus der Provinz über zwei Buben und das unheimliche Gesicht der Mutter: Das österreichische Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala präsentierte in Venedig sein sehr sehenswertes Spielfilmdebüt.

 

Wenn es wahr ist, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, dann gilt für das Kino, dass Filme erst im Kopf des Zuschauers entstehen. Insbesondere trifft das auf Horrorfilme zu mit ihrem raffinierten Spiel von Zeigen und Verbergen, von drastischen Bildern und unsichtbarem Schrecken. So gesehen ist der Titel des neuen Films des Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala „Ich seh, Ich seh“ eine Art Falle: „Was du nicht siehst“, ergänzt der brave Zuschauer wie von selbst und ist quasi schon gefangen in dem, was da auf der Leinwand geschieht.

Was man am Anfang sieht, sind idyllische Bilder von Ferien auf dem Land. Zwei Buben, die sich wie Zwillinge gleichen, rennen durch Felder, hüpfen über Sumpfwege, spielen im Wald. Sie sind so um die zehn, ein paradiesisches Alter für Abenteuer dieser Art. Ein Alter auch, in dem magisches Denken sich auf fast gefährliche Weise mit dem Erwachen eines scharfen Verstands mischt. Man sieht ihnen an, welche Anziehungskraft deshalb gerade die seltsamen und manchmal bedrohlichen Situationen in der Natur ausüben: Das Dunkel einer Höhle, die stille Tiefe eines Sees im Wald wollen erforscht und erobert werden. Irgendwann treibt nur noch einer der Buben auf dem Wasser, den Namen des anderen rufend, und der Zuschauer weiß, dass irgendetwas passiert sein muss. Aber dann belegen die nächsten Bilder das Gegenteil. So scheint es zumindest.

Bandagen nach der Schönheits-OP. 


Spätestens als die Buben von einer Mutter empfangen werden, deren Gesicht unkenntlich hinter den Vollbandagen einer Schönheitsoperation verborgen bleibt, sind jene reflexhaften Gedankenschlüsse vergessen, die noch im Vorfeld die Berichterstattung über den Film bestimmt haben.

Von wegen, dass Veronika Franz als Gattin, langjährige Mitautorin und Mitarbeiterin von Ulrich Seidl gewissermaßen den „Horror“ der Filme ihres Mannes in fiktiver Genreform sichtbar macht. Das Regieduo Franz und Fiala, das sein gleich gesinntes Zusammenarbeiten zuvor schon beim Dokumentarfilm „Kern“ unter Beweis gestellt hat, liefert mit „Ich seh, Ich seh“ ein Spielfilmdebüt, das eine unabhängige Würdigung jenseits von Seidl-Filmen mehr als verdient.

Sicher, dass der Film so gut funktioniert, verdanken die beiden auch der Meisterschaft des Kameramanns Martin Gschlacht (der auch Seidls jüngsten Film „Im Keller“ gefilmt hat). Seine mal ruhigen und mal beunruhigenden, mal meditativen und mal Augen öffnenden Aufnahmen schaffen den atmosphärischen Hintergrund, vor dem sich dieser psychologische Thriller mit Horrorelementen entfaltet. Aber es ist das, was sich im Unsichtbaren dieses Films abspielt, das in den Bann zieht.


 
Mit einem Drehbuch, das so gut wie keine Dialoge enthält, gelingt es den Autoren lang, den Zuschauer völlig darüber in der Schwebe zu halten, welche Geschichte sich eigentlich vor seinen Augen abspielt.
Geht es um ein totes Kind, einen imaginären Freund oder doch um eine verschwundene Mutter? Was geht in den Köpfen der drei Hauptpersonen vor? Und vor allem: Welche Version davon ist die, die man als „real“ deuten kann? Was als das Drama der zwei Jungen beginnt, die auf einmal Zweifel darüber bekommen, ob die Frau, die behauptet, ihre Mutter zu sein, tatsächlich ihre Mamma ist, wird schließlich zugespitzt zum Drama ebendieser Frau, die mit ihrer mütterlichen Macht die mütterliche Identität zu verlieren droht.

Sparsam an Zutaten.  


Zum Erfolgsrezept des Films gehört auch die Sparsamkeit der Ingredienzen. Die Zitate klassischer Horrorszenen wie ein aufgeschlitzter Körper, aus dem Ungeziefer quillt, wirken sorgfältig ausgesucht. Die volle Konzentration aber gilt den drei Hauptfiguren und im Wesentlichen einem Schauplatz, einer modernen Villa. Deren kahle Wände und glatte Oberflächen mit ihrer eindeutigen Materialität – Holz, Stein, Teppich – tragen viel zum Horror bei: Gerade die Geheimnislosigkeit dieser Bauweise, die radikal vom ornamentalen Altbau Abschied nimmt, schafft in ihrer Leere Projektionsräume für Ängste und Beklemmungen aller Art.

Muttersein ist nicht beweisbar. 


Auch wenn gegen Ende wie so oft bei mysteriösen Filmen die Auflösung in ihrer Eindeutigkeit doch ein wenig enttäuscht: Selten hat man so sinnlich-eindrücklich demonstriert bekommen, dass das Muttersein eine Handlung ist, die sich nur ausführen, nicht beweisen lässt.

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