Mittwoch, 21. Januar 2015

Wen bilden wofür?

Achilles und Cheiron
aus nzz.ch, 21.1.2015, 05:00 Uhr

Neue Bücher über Schule, Universität und Beruf
Bildung in der Krise

von Hans-Albrecht Koch 

Seit einiger Zeit nimmt die Zahl von Publikationen auffällig zu, die Zweifel an einer Bildungspolitik äussern, die immer mehr die Erlernung typischer Ausbildungsberufe an eine Hochschule verlagern will, solcher Berufe also, bei denen die praktische Anleitung die theoretische Reflexion überwiegen muss. Ob man darin schon die Vorboten eines bildungspolitischen Umsteuerns sehen darf, muss freilich noch dahingestellt bleiben. Immerhin aber darf man mit dem Münchener Professor für Philosophie Julian Nida-Rümelin wieder fragen, was der «Akademisierungswahn» für Individuen und Gesellschaft gebracht hat. Fünf Jahre hat der Autor, zuerst als Kulturreferent der Stadt München, dann als Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten im Kabinett des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, auch selbst in der politischen Verant- wortung gestanden. Manches zieht er nun nachdrücklich in Zweifel, wofür er sich als sozialdemokratischer Bildungspolitiker früher selbst eingesetzt hat.

Gefährdete Substanz

Das Fazit seines kritischen Rückblicks kommt den Analysen des Zentralverbands des Deutschen Hand- werks erstaunlich nahe, der sich um den Nachwuchs sorgt. Dem «intellektualistischen» Mainstream der Bildungspolitik in Deutschland stellt Nida-Rümelin Überlegungen wie diese entgegen: «Es ist durchaus fraglich, ob der Erzieher, der ein Psychologiestudium absolviert hat, mit dreijährigen Kindern besser umgehen kann als derjenige, der eine intensive praktische Erfahrung unter Anleitung hinter sich» gebracht hat. (Auch die meisten erziehenden Eltern sind keine ausgebildeten Pädagogen . . .) Einerseits bricht auf den Berufsfeldern, die der Erfahrung angeleiteter Praxis bedürfen, ebendiese Praxis weg; andererseits verliert das Studium von Fächern, die der theoriegeleiteten Reflexion bedürfen, im Nürnberger Trichter des «modularisierten» Bachelorstudiums und der verordneten engen Spezialisierung des Masterstudiums den Blick für Zusammenhänge und für den Ort des Details im Ganzen. Dem vor fünfzehn Jahren eingeleiteten Bologna-Prozess attestiert Rümelin, er «gefährde die Substanz der europäischen Universität».

Der an der Universität Wien lehrende Philosoph Konrad Paul Liessmann lenkt in einer Fundamentalkritik des bildungspolitischen Aktionismus den Blick auf dessen Folgen, die zwar längst jeder in der akademi- schen Lehre Tätige erfahren hat, die aber aus Opportunismus selten beim Namen genannt werden. Der zeitgenössischen Pädagogik wirft Liessmann die «Transformation höherer Schulen in sozialpädagogische Anstalten» vor – eine Transformation, die unter der Flagge des Erwerbs sogenannter Kompetenzen («Handlungskompetenz», «Sozialkompetenz», gar «Selbstkompetenz») dahergesegelt kommt und den Weg zum Verzicht auf das Vermitteln bzw. Erlernen von schwierigen, aber dauerhaft lohnenden «Inhalten» bereitet. (Rund 4000 Kompetenzen schlug der Schweizer Lehrplan 21 für die Grundschule vor!)

Liessmann enttarnt die zur Begründung des Kompetenz-Konzepts vorgetragenen Gesichtspunkte als «Ori- entierung an den vermeintlichen Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die niemand kennt» – in summa: als bewusste Abkehr von der anstrengenden Zumutung, junge Menschen mit so «nutzlosen» Aufgaben zu konfrontieren wie der Lektüre bedeutender Texte aus Literatur oder Philosophie. Nach den eher niederschmetternden Bemerkungen über die «Käuflichkeit des Geistes», die man noch um die Frage ergänzen mag, wieso der Unterricht immer mehr vom Vertrieb irgendwelcher Produkte der Power-Point-Industrie bestimmt sein muss statt vom zugewandten Gespräch, lenkt der Autor seinen Leser zum Schluss mit der Frage nach der «Schönheit des Nutzlosen» so strikt wie geschickt auf das grosse anthropologische Thema aller Philosophie: Wessen bedarf es zu einem gelingenden, zu einem glücklichen Leben?

Christiane Florin, Journalistin und Politikwissenschafterin, die bis zum Ende des «Rheinischen Merkurs» im Jahre 2010 dessen Feuilletonchefin war und heute die Redaktion «Christ und Welt» der «Zeit» leitet, hat sich getraut, Szenen aus dem Alltag einer Lehrbeauftragten zu beschreiben, die in erfrischend launiger Sprache und mit ironischer Distanz das Elend universitärer Lehre widerspiegeln. Viele Dozenten dürften das Buch als ein Déjà-vu lesen – mag es sich um den Mangel an Selbstmotivation vieler Studierender handeln («das Gros arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag») oder um das ständige «Nuckeln» an der Flasche oder um die Zumutung, als die Seminarteilnehmer es schon empfinden, wenn sie sich für eine Arbeit einmal ein Buch per Fernleihe besorgen müssen. – Es scheint sich das Missverständnis breitgemacht zu haben, Universität sei eine Einrichtung zur Erzeugung von Nestwärme und nicht eine solche, in der man sich mit Vergnügen intellektuellen und sozialen Herausforderungen stellt. Die Autorin bietet manchen Beleg dafür, dass eine Didaktik der sachlichen Strenge junge Menschen beim Studium um vieles besser fördert als eine Didaktik der bequemen Anbiederung.

Das Buch von Mark Roche, das nicht so komparatistisch angelegt ist, wie der sprachlich verunglückte Titel vermuten lässt, handelt unter den Stichwörtern Vielfalt, Flexibilität, Wettbewerb, Anreizstrukturen und dergleichen mehr alles ab, wovon man in Europa immer schon zu wissen meinte, dass es die amerikani- schen Universitäten zu ihrem Vorteil auszeichne. Wer genauer hinschaut, wird nicht alles so hoch veranschlagen wie der Verfasser: Ja, die USA haben es besser, was die finanzielle Situation angeht – das gilt aber nur für die kleine Spitze der langen Liste von Hunderten amerikanischer Universitäten. Das Betreuungsverhältnis von Dozierenden zu Studierenden ist besser, zweifellos. Vieles aber, was Roche an Vorzügen nennt – etwa die vermeintlich so unübertrefflich sorgfältige Berufungspolitik, den Nutzen der starken Stellung des Dean gegenüber einem europäischen Dekan –, überzeugt nur den, der sich auf die Realität nicht allzu sehr einlässt.

Was der Verfasser, der sich besonders auf seine persönliche Erfahrung als Dean des College of Arts and Letters an der katholischen University of Notre Dame beruft, weitläufig ausbreitet, ist zwar an sich nicht uninteressant, unterschlägt aber doch zuweilen wichtige Kontexte: etwa den, dass ein Undergraduate-Studium am College eher mit der gymnasialen Oberstufe in den deutschsprachigen Ländern zu vergleichen war als mit dem universitären Grundstudium (jedenfalls bis zur Bologna-Katastrophe). Was Roche über den (als solchen nicht gekennzeichneten) Export der Rice University an die International University (Jacobs University) in Bremen schreibt, liest sich wie deren einstiger Werbeprospekt und entspricht nur noch dem Stand vor dem finanziellen Debakel und dem Rückbau dieser privaten Hochschule.

Es blüht der Unfug

Alle Autoren ausser Nida-Rümelin handeln nur von geisteswissenschaftlichen Fächern im weiteren Sinne, berücksichtigen aber nicht die seit einiger Zeit gern unter dem Kunstwort «Mint» zusammengefassten Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – auch nicht die recht eigentlich dazugehörenden mathematisch fundierten Wirtschaftswissenschaften, die sich ihrer Abkunft aus der Philosophie kaum selbst noch bewusst sind. Die Mint-Fächer haben in der Mathematik eine anspruchsvolle gemeinsame Grundlage, die zu Präzision zwingt und zugleich eine Hürde ist, an der das Studium gegebenenfalls «rechtzeitig» scheitert. Dergleichen fehlt in den Geisteswissenschaften, die heute mit Innovation vortäuschender Umbenennung gern als Kulturwissenschaften firmieren, seit der Abschaffung obligatorischer Lateinkenntnisse. Und so blüht solcher Unfug wie die «kooperative Zusammenarbeit» inzwischen in «akademischen» Texten zuhauf und verhilft zu Seminarscheinen, Credit-Points und Bachelor-Zeugnissen.

Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014. 253 S., Fr. 24.90. 
Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Zsolnay, Wien 2014. 190 S., Fr. 27.90. 
Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 79 S., Fr. 8.40. 
Mark Roche: Was die deutschen Universitäten von den amerikanischen lernen können und was sie vermeiden sollten. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann. Felix Meiner, Hamburg 2014. 297 S., Fr. 32.90.


Nota. - Die deutsche Universität Humboldt'scher Prägung ist entstanden als eine Berufsausbildungs- Anstalt; ein Anstalt zur Ausbildung von Staatsdienern. Nicht von subalternen Beamten, sondern von Leuten, die das Gemeinwesen lenken können. Dementsprechend umfassend sollten sie gebildet sein. 

Das ist lange her. Inzwischen sind die Universitäten zu Fachhochschulen für alle erdenklichen Berufe geworden, und nicht im Staatsdienst, sondern für die Erfordernisse des Arbeitsmarkts. Das ist zu wenig, nicht wahr? Eine Gesellschaft braucht doch auch Leute, die nicht nur um ihres eigenen Auskommens willen... 


Ach, braucht sie diese Leute? Und wenn ja: wozu? Und wer soll sie bezahlen? Das kostet doch alles Geld, wer trägt das Risiko?

JE



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