Sonntag, 17. Mai 2015

Was kann die Philosophie zur Pädagogik beitragen?


Rembrandt, Der Philosoph 

Ich war vierzehn Tage vom Netz. Da hatte ich Muße und blieb mir nichts übrig, als meine Festplatte durchzu- sehen. Dabei bin ich auf ein paar frühe Reflexionen über den präsumtiv wissenschaftlichen Charakter der neu- eren Pädagogik gestoßen. 

Ich werde sie in den nächsten Tagen hier wiedergeben; nicht als Neuheiten, denn ich habe sie seither in etlichen andern Texten ausgeführt. Sondern um nachzuweisen, dass ich in meinen eigenen pädagogischen Reflexionen an keiner Stelle und zu keiner Zeit von vorgefassten Begriffen und vorersonnen Theorien ausgegangen bin.

Ich bin zu meinem pädagogischen Erwerbsberuf als reiner Praktiker gekommen – unbefangen und lediglich mit dem gesunden Menschenverstand als Leitfaden.

Das heißt nicht vorurteilslos: Der gesunde Menschenverstand beruht auf den abertausenden Selbstverständ- lichkeiten des täglichen Lebens. Aber frei von theoretischen Vorurteilen, sofern sie sich als Begriffe darbieten. Die Selbstverständlichkeiten des Alltags treten nicht schon begrifflich auf, sondern als landläufiges Meinen. Solange man seine Meinungen nur für sich behält, mögen sie als solche durchgehen. Aber ab 2000 verfolgte ich das Projekt eines Landschulheims musisch-ästhetischer Prägung, da musste ich meine Meinungen Andern vortragen. Begriffliche Verallgemeinerungen wurden nötig. Da kam es mir zustatten, dass ich mich seit Jahren wieder der Philosophie zugewandt hatte.

*

Ich bin ja ein kritischer Kopf im weitesten Sinn. Ich mag nichts für wahr nehmen, was ich nicht verstanden habe. Die Gründe der Dinge erkennen wollen ist aber naiv und unkritisch. Mit den Dingen selbst habe ich ja nicht zu tun, sondern immer nur mit meinen Vorstellungen von ihnen. Eine Vorstellung Y beruht auf einer Vorstellung X, die ich mir zuvor schon gemacht habe, und sei es, ohne es recht zu merken. Eine gegebene Vorstellung zurückführen auf die Vorstellungen, die ihr zu Grunde liegen, ist das Verfahren der Transzenden- talphilosophie (und bewährt sich an allen Themen, so praktisch sie auch sein mögen).

Ernsthaft habe ich mich mit der Transzendentalphilosophie zuerst 1981 beschäftigt, als ich schon lange päda- gogisch berufstätig war. Nicht dass ich mich vorher mit ihr unernsthaft oder gar nicht beschäftigt hätte. Doch bei Kant hatte ich, trotz Universitätsstudium, gar nicht recht verstanden, worum es überhaupt geht. Das kam erst, als ich mich der radikalisierten Version Fichtes zuwandte. Freilich habe ich dort nicht unmittelbar nach Antworten auf pädagogische Fragen gesucht. Ich habe mein Fichte-Studium ganz unabhängig von meinem Beruf aufgenommen. Abstand und Muße waren dafür unverzichtbar, und die hatte mir ein biographischer Zufall verschafft.

Transzendentalphilosophie ist das Zurückführen alles Gesetzten auf sein Vorausgesetztes. Als letzten Grund findet sie das vorstellende Ich. Wie aber kommt das Ich zum Vorstellen? Es könnte doch untätig bleiben und auf-sich-selbst-beruhen, d. h. ein Ich gar nicht erst werden -?!

Wir sind aber alle Iche geworden und haben Dieses und Jenes in unserem Bewusstsein. Und damit allein hat die Transzendentalphilosophie ja zu tun. Alles andere geht sie nichts an. Da aber ein X sich zum Vorstellen aufgerafft hat und somit zu einem Ich geworden ist, müssen wir wohl annehmen, dass es das gekonnt hat. Die Transzendentalphilosophie fügt der Erkenntnis materialiter nichts hinzu. Sie mustert im Gegenteil nicht hin- reichend begründete Erkenntnis aus dem Wissensfundus aus. In diesem Sinn ist die Transzendentalphilosophie rein kritisch. Sie ist das allgemeine Schema (gr. [Sinn-] Bild), an dem das positive Wissen sich messen lassen muss. Was sich nicht genetisch aus ihrem Vorgang herleiten lässt, verfällt – bestenfalls als private Schrulle, schlimm- stenfalls als interessierte Lüge.

Das Positive der Transzendentalphilosophie ist das, was die Kritik am positiven Wissen bestehen lässt. Für sich hat die Transzendentalphilosophie gar keinen Bestand, sondern allein in ihrem Verhältnis zum wirklichen Wissen; und jenes hat keinen Bestand außer in seinem Verhältnis zur Kritik alias Transzendentalphilosophie.

*

Pädagogik ist gar kein positives Wissen. Sie ist, wo sie als gedankliches Gebäude auftritt, ein krudes Sammelsu- rium aus überkommenen Begriffen und privaten Meinungen. Und sie ist von vornherein verdächtig: weil sie immer im Dienst eines eigensüchtigen Berufsstands steht; anders kommt sie überhaupt nicht vor. Mehr als jeder andere Wissensbereich hat sie die strenge Kur der Kritik nötig. Ob sie dadurch zu positivem Wissen, gar zu einer Wissenschaft werden kann, steht noch auf einem andern Blatt. Aber selbst Einzelerkenntnisse kritisch verifizieren wäre hier schon ein Fortschritt.

Welchen Beitrag kann also die Kritik der Transzendentalphilosophie zur pädagogischen Einsicht leisten?

Ihr erstes Fundstück und Ausgangspunkt all ihrer genetischen Herleitungen ist das 'Ich, das sich selber setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Sie findet es zuerst als Faktum: So war es, so ist der Mensch zum Vorstellen gekommen, so ist ihm eine Welt erstanden.

Doch dass es so ist, muss den Pädagogen noch nicht beeindrucken. Seine Frage ist ja, ob es so sein soll; oder nicht doch besser etwas Anderes?

Bevor überhaupt etwas „da war“, muss man annehmen, dass es dynamei dagewesen ist als Möglichkeit, als „Ver- mögen“. Trieb nennt es J. G. Fichte, und bestimmt es näher als Wollen.* Die Vorstellungstätigkeit ist nur zu begreifen, wenn der Mensch vor allen (!) andern Bestimmungen als wollend angenommen wird. Doch während der Philosoph sagt: So entsteht Vorstellung, sagt der Pädagogen: Vorstellung soll geschehen, eine Welt soll ent- stehen. Er muss seinen Zögling nicht nur – theoretisch – als wollendes Subjekt auffassen, sondern auch – prak- tisch – durch sein alltägliches Tun und Lassen bestätigen.

Das ist nun denkbar allgemein, aber nichtssagend ist es keineswegs, weil damit eine ganze Menge (sic) anderer möglicher pädagogischer Grundoptionen ausgeschlossen werden.

Doch positiv ist es auch: Irgendein Bauchgefühl ist noch kein Wollen. Es muss sich als begründete Vorstellung rechtfertigen können, um in unserer Welt Geltung zu beanspruchen. (Privat für mich selbst, in meiner Welt, mag ich ohnehin meinen, mögen und begehren, wonach mir das Herz steht.)

Es ist wahr, die tägliche pädagogische Praxis ableiten kann man daraus nicht. Das ist ohnehin unmöglich und auch gar nicht nötig. Denn Handlungen, die der Außenstehende als pädagogisch taxieren mag, geschehen sowieso, gewollt oder ungewollt, institutionell induziert oder ganz von allein. Die kann man nicht und muss man nicht „ableiten“. Prüfen und gegebenenfalls neu einrichten muss man sie, und dafür braucht man einen Maßstab; ein regulatives Prinzip nennt es die philosophische Schulsprache.

Das ist es, was die Philosophie – die Transzendentalphilosophie – für die Pädagogik sein kann: ein regulatives Prinzip. Wozu immer du deinen Zögling bestimmen willst, bedenke stets: Ein Ich ist er nur als wollendes Wesen, ein Ich 'setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Aber wozu in specie du deinen Zögling bestimmen wollen sollst, und ob überhaupt, das kann dich keine theoretische Philosophie lehren. In den Philo- sophien aller Länder und aller Epochen findest du viele anregende Gedanken; aber was du davon zu deiner Handlungsmaxime machen willst, das musst du schon ganz alleine wissen.

*) vgl. 'Intentionalität' bei Husserl; auch das Marx’sche Bedürfnis hat diesen intentionell-thetischen Charakter.












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