Montag, 15. Juni 2015

Die Ganztagsschule ist ein totalitäres Element.

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Warum die Ganztagsschule in Westdeutschland nur ein marginales Phänomen blieb

Philip Stirm
Referat Kommunikation
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung
15.06.2015 11:08

Die Systemkonkurrenz mit der DDR war der Hauptgrund dafür, dass Kinder in der alten BRD nur selten eine Ganztagsschule besuchten. Das zeigt eine neue bildungshistorische Studie.
Der Ausbau der Ganztagsschulen wird in Deutschland seit mehr als zehn Jahren intensiv vorangetrieben. Damit sind hohe Erwartungen verbunden, zum Beispiel hinsichtlich einer verbesserten individuellen Förderung der Schulkinder. In der ehemals nur westdeutschen Bundesrepublik besuchte hingegen durchgehend nur ein sehr geringer Teil aller Schülerinnen und Schüler eine ganztägig geführte Schule. Der Schultag endete meist um die Mittagszeit, was im internationalen Vergleich ein Sonderweg war. Eine jetzt herausgegebene zeithistorische und schulgeschichtliche Studie zur Entwicklung des Reformprojekts Ganztagsschule in der BRD der 1950er bis 1980er Jahre legt nun dar, wie es dazu kam: „Zur Beharrungskraft der westdeutschen Halbtagsschule trug im Kontext von Kaltem Krieg und Systemkonkurrenz maßgeblich die Existenz eines zweiten deutschen Staates bei“, so Dr. Monika Mattes vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Die Bildungshistorikerin hat die Studie größtenteils am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erstellt und am DIPF vollendet. Finanziert wurden diese Arbeiten durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie durch die Volkswagen-Stiftung.



In der Studie erläutert die Forscherin, dass das ganztägig ausgelegte staatliche Bildungssystem der DDR einen sozialistischen Gegenentwurf darstellte, von dem sich Westdeutschland permanent abgrenzen musste. „In der Bundesrepublik blieben kulturelle Vorstellungen, Ideen und Handlungen ungleich stärker als in der DDR vom Ernährer-Hausfrau-Modell geprägt und trugen so zur mentalen Verankerung der Halbtagsschule bei“, beschreibt Dr. Mattes die Folgen. Als weiteren Grund für den Fortbestand der Halbtagsschule in der BRD führt die Forscherin an, dass der freie Nachmittag zunächst als Privileg des Lehrerstandes verteidigt wurde und dann mit der Feminisierung des Berufs der wachsenden Zahl von Lehrerinnen die Vereinbarung von Beruf und Familie erleichterte. Mattes ergänzt: „Schließlich ist die in Westdeutschland besonders ausgeprägte institutionelle Abgrenzung von Bildung und Erziehung zu nennen, die mit ihren getrennten Praxisfeldern Schule und Jugendhilfe die Einführung der Ganztagsschule erschwerte.“

Die Studie zeichnet den Wandel des Diskurs- und Handlungsfeldes Ganztagsschule insgesamt nach. Dabei kommen verschiedene Untersuchungsmethoden zum Einsatz, zum Beispiel die diskursanalytische Rekonstruktion sowie sozial- und politikgeschichtliche Analysen. Als Quellenbasis nutzte Dr. Mattes Material aus staatlichen und Schul-Archiven sowie pädagogische Periodika, zeitgenössische Presseartikel und Publikationen, die nicht über den Handel vertrieben wurden – sogenannte graue Literatur. Zudem führte sie Interviews mit ehemaligen Schulleitungen und Lehrkräften. Die Ganztagsschule wird so nicht nur als Gegenstand der Bildungs- und Schulpolitik in den Blick genommen, sondern auch in ihren arbeitsmarkt-, familien- und geschlechterpolitischen Dimensionen im Kontext von Kaltem Krieg, Modernisierung und Verwestlichung verortet. Politik, Verwaltung und Pädagogik erhalten zudem anhand von drei Fallbeispielen Hinweise, welche Faktoren die Einführung von Ganztagsschulen unterstützen können.

Die Untersuchung von Dr. Monika Mattes ist unter dem Titel „Das Projekt Ganztagsschule“ in der Reihe „Zeithistorische Studien“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung im Böhlau Verlag erschienen: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-22376-2.html 

Kontakt

Studie: Dr. Monika Mattes, DIPF +49 (0)30-293360-664, mattes@dipf.de 
Presse: Philip Stirm, DIPF, +49 (0)69 24708-123, stirm@dipf.de
Dr. Hans-Hermann Hertle, ZZF, +49 (0)331-28991-31, hertle@zzf-pdm.de


Nota. - Sagt es nur frei heraus: Im Westen Deutschlands galt die Ganztagsschule als ein totalitäres Element - weil sie ein totalitäres Element ist. Dass sie in den meistens andern Ländern des Westens ebenfalls vorherrscht, beweist nicht das Gegenteil, sondern - im Gegenteil -, dass Leviathan in der ganzen Welt weiß, wo er fette Beute findet. 

Das ist eine ausgesuchte Perfidie: unsern freien Nachmittag verunglimpfen als Relikt der Kalten Krieges. Wissen Sie, dass das Deutsche Institut für internationale pädagogische Forschung in Ostberlin angesiedelt ist? Ich meine: nicht nur geographisch, sondern auch mental? "Es war nicht alles schlecht" - als ich das im Januar 1990 zum erstenmal gehört habe, kam es aus dem Mund einer ostberliner Lehrerin. 'Ein bisschen wollen wir uns unsere DDR-Identität doch erhalten!' - Oh, das ist euch gelungen: Wenn sie vom freien Nachmittag redet, fallen ihr selbstständlich bloß die Lehrer ein. (Dabei waren deren Nachmittage nie frei: Die meisten arbeiten wirklich nachmittags, und zwar selbstständig, das wäre Frau Honecker nicht recht gewesen).

Der Nachmittag ist frei für die Kinder, und soll es bleiben, denn was die Freiheit wert ist, lernt man nicht unter Aufsicht. Das ist es, was die DDR-Pädagogen uns als Erfahrung mitbringen konnten - und auch mitgebracht haben; den ganzen Monat November 1989 lang. Im Januarfiel ihnen, wie gesagt, ein, dass doch nicht alles schlecht war. 

O, es war alles schlecht, und am schlechtesten Eure Ganztagsschule. Was hatte man zuvor acht Wochen lang auf jedem Meeting gehört? "Das Schlimmste an der DDR war, dass sie die Kinder zur Lüge erzogen hat." Und das wirkt nach, bis heute.
JE

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