Donnerstag, 25. Juni 2015

Was Kindern fehlt, ist freie Zeit, über die sie selbst verfügen können.

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Was Kindern fehlt, ist freie Zeit, über die sie selbst verfügen können.

aus Tagesspiegel.de, 25. 6. 2015

Jugend in der Leistungsgesellschaft

Schule, Sport, Stress

von Katharina Ludwig

... "Man kann Kinder nicht genug fördern", lautet ein weitverbreiteter Glaube. Doch eine Studie des Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler von der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung liefert gegenteilige Daten. Auch Kinder und Jugendliche erleben Stress, also ein Bündel psychischer und körperlicher Belastungen. Gut jedes sechste Kind (18 Prozent) und jeder fünfte Jugendliche (19 Prozent) ist sogar stark gestresst. Eltern fordern und fördern zu viel – und stressen sich dabei noch selbst. Die Bepanthen-Kinderförderung gehört zum Pharmakonzern Bayer HealthCare. Die Ergebnisse wurden am Donnerstag in Berlin präsentiert.

Als „Ungleichgewicht zwischen wahrgenommenen Anforderungen und der subjektiven Fähigkeit, diese Anforderungen zu erfüllen“, definiert Holger Ziegler das Problem. Gestresste Kinder teilen Sorgen und emotionale Erschöpfung, zeitliche Belastung und körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen oder fehlenden Appetit. Und allen fehlt es an Selbstbestimmung. 84 Prozent von ihnen haben oft das Gefühl, keine Zeit zu haben für Dinge, die ihnen Spaß machen. 54 Prozent haben nach der Schule Termine, die sie eigentlich nicht machen wollen.Über die Hälfte nimmt nach der Schule Termine wahr, ohne das selbst zu wollen

Besonders an der Stress-Studie ist, dass die Forscher das Erleben der Kinder in den Fokus gerückt haben. 1100 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren wurden in den Großstädten Berlin, Dresden und Köln in Face-to-Face-Interviews befragt, zwei Drittel davon waren jünger als elf Jahre alt. Die Antworten wurden dann mit denen der Eltern verglichen. Wegen der hohen Zahl der Befragten und ihrer Auswahl per Zufall gelten die Ergebnisse für Großstädte als repräsentativ. ...

Kinder leiden aber auch an „Förderstress“ und den Erwartungshaltungen der Eltern: 39 Prozent aller 12- bis 16-Jährigen haben an drei oder mehr Tagen pro Woche nach der Schule noch mindestens einen festen Termin. Wobei die Termindichte alleine, für Ziegler überraschend, noch nichts über den Stresslevel des Kindes sagt. Entscheidend sei, ob die Aktivitäten von den Kindern gewollt sind und somit als „ihre Zeit“ empfunden werden. 85,6 Prozent der gestressten Kinder dürfen in der Freizeit nicht selbst entscheiden. 60,2 Prozent werden nur manchmal bis nie nach ihrer Meinung gefragt. „Freizeit ist Freizeit“, egal was das Kind macht, dieser Satz findet nur bei 15 Prozent der Eltern von gestressten Kindern Zustimmung.

Die Folgen von Stress äußern sich – wie bei Erwachsenen – psychisch sowie körperlich: Kinder und Jugendliche fühlen sich unwohl und haben häufig eine negative Selbstwahrnehmung. 67 Prozent sind oft wütend, zornig oder – selbst in der Fülle des fremdbestimmten Angebots – gelangweilt, was auch zu höherer Aggressionsbereitschaft führt. 65 Prozent können schlechter einschlafen, haben häufiger Kopf- und Bauchschmerzen oder leiden häufiger unter Müdigkeit als ihre weniger gestressten Altersgenossen. Das sind wichtige Warnsignale. „Magst du dein Leben, so wie es ist?“ Diese Frage beantworten 29,9 Prozent mit „manchmal/gar nicht“. Die Kinder fühlen sich als Versager, die Lust an der Schule schwindet, sie schämen sich und ziehen sich zurück. Elf Prozent der Jugendlichen mit hohem Stresslevel sind depressiv verstimmt. Ziegler hätte auch positive Stress-Folgen wie mehr Leistungsbereitschaft erwartet, belegbar seien aber nur negative Folgen. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich nicht mehr in der Lage, ihre Probleme zu meistern. Knapp die Hälfte fürchtet, die Eltern zu enttäuschen. Das Sensorium der Kinder für die in sie gesteckten Erwartungen ist gut.

Die Eltern umgekehrt nehmen die Belastung ihrer Kinder häufig nicht wahr: 87,3 Prozent der Eltern von stark gestressten Kindern glauben nicht, ihr Kind zu überfordern. 40 Prozent fürchten im Gegenteil, ihre Kinder noch nicht genügend zu fördern. Nur etwa 25 Prozent haben Sorgen, zu überfordern.

Dabei schaden sich die Eltern mit ihrem „Stressförderregime“ häufig selbst, so Ziegler. Während Väter und Mütter ihre Kinder treiben, empfindet etwa ein Drittel derer mit stark gestressten Kindern die Elternschaft selbst als stressig – finanziell und stärker noch zeitlich. „Möglicherweise ist Stress eine zentrale Problemlage des Aufwachsens im 21. Jahrhundert“, sagt Ziegler.


Die FAZ vom heutigen 25. 6. 2015 resümiert dieselbe Studie unter der Überschrift "Viele Eltern nehmen Kinderstress kaum wahr" unerwartet pointiert:

„Der wohl bedeutsamste Faktor für kindlichen Stress dürfte eine instrumentelle, auf Leistung und mehr noch auf Erfolg orientierte Erziehungspraxis sein“, bilanziert der Erziehungswissenschaftler. Daneben mangelt es den Sechs- bis Sechzehnjährigen vor allem an selbstbestimmter „Qualitätszeit“: Mehr als 83 Prozent der Kinder mit hohem Stress haben nach eigenen Angaben keine Zeit für Dinge, die ihnen wirklich Spaß machen. Weitere Faktoren: wenig unverplante Freizeit, wenig Mitbestimmung und – vor allem für Kinder aus sozial schwachem Elternhaus – viele Pflichten im Haushalt.


Nota. - Die FAZ trifft diesmal den Nagel auf den Kopf: Der wesentliche Stressfaktor ist die Fremdbe- stimmtheit - das ist bei Kindern nicht anders als bei uns Erwachsenen, und höchstens fällt es bei ihnen, die doch eben vor der Aufgabe stehen, sich Raum und Zeit überhaupt erst anzueignen, noch schwerer ins Gewicht. 'Aber das ist doch alles Sport und Spiel, das sind doch alles Sachen, die Kindern Spaß machen', werden viele Eltern sagen, die ihre Kinder jeden Nachmittag woanders angemeldet haben. Ja, aber Spaß machen sie erst, wenn sie vor einem entspannten Hintergrund freier Zeit geschehen: "Qualitätszeit", wie der Autor der Studie es treffend nennt - das Wort sollte Schule machen...

Und muss ich es noch extra aussprechen? Diese Studie ist der endgültige Richtspruch über das menschen- feindliche Projekt der Ganztagsschule.

Für den gesunden Menschenverstand, lieber Leser; aber nicht für die pp. Erziehungswissenschaft. Die ist das Sprachrohr der beruflichen Interessen der Pädagogenschaft, und da wird uns in den kommenden Tagen sicher der eine oder die andere glaubhaft machen können, dass beaufsichtigtes nachmittägliches Spiel auf dem Schulhof sehr wohl auch als Qualitätszeit gelten kann, man muss nur die Kinder glauben machen, dass sie es selbst so wollen. Das müsste man notfalls mit Fachpersonal trainieren, und die muss man dann eben neu einstellen.
JE




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