Sonntag, 5. Oktober 2014

Die Lockung des Wolfsjungen.

Die Lockung des Wolfsjungen
 

Filmkritik zu Little Indian, aus: Neues Deutschland, 6. 7. 1995

Die skurrile Story: Der Pariser Börsenspekulant Steph erfährt duch Zufall, daß er Vater ist - sein dreizehnjähriger Sohn ist bei amazonischen Waldindianern aufgewachsen; nicht ganz freiwillig nimmt er ihn mit nach Paris, wo er prompt das unterste zuoberst kehrt...

Keine Frage, Little Indian hat das Zeug zu einem Familienklassiker wie Yves Roberts Krieg der Knöpfe. Es ist eine Lachversion von Tarzan in New York, versetzt mit Truffauts Wolfsjungen, und keine Frage, auf wessen Seite die Lacher sind, wenn Urwald und Zivilisation zusammenstoßen. Es kommt schließlich, wie es kommen muß - der Vater folgt seinem Sohn zurück an den Amazonas...

Indes wäre die Botschaft dieser irrwitzigen Geschichte dramaturgisch unglaubhaft und ideologisch suspekt, würde da einfach der Sieg der Natur über die Zivilisation beschworen. Wieviele blasierte Kulturflüchter könnte Amazonien schon noch verkraften? Doch der Pariser Geschäftsmann folgt in Little Indian nicht dem Lockruf der Wildnis, sondern seinem Jungen. In Wahrheit ist es eine Liebesgeschichte. Gewiß bedarf es des komödiantischen Talents von Thierry Lhermitte, um glaubhaft zu machen, wie der Börsenjobber - vollauf beschäftigt, seinen kleinen Wilden aus all den Katastrophen zu bergen, in die er eine nach der andern hetzt - ganz allmählich, ohne sentimentale Schlüsselszene, von seinem Handy und Laptop weg- und auf die Seite seines Jungen gleitet. Doch den Ausschlag gibt natürlich der Junge. In Ludwig Briand wurde eine Idealbesetzung gefunden, seinem unbefangenen Charme nimmt man das Naturkind gerne ab. Wenn aber immer wieder auch die arttypische Ironie des kleinen Franzosen durchblitzt, bemerkt man: Der Konflikt von Natur und Zivilisation, an sich eine olle Kamelle, dient hier nur als Einstieg; in Wahrheit ist es nicht die Wildheit der andern, die diesen Erfolgsmenschen betört, sondern die eigene - die er mal hatte, die er doch längst vergangen glaubte und die in der Gestalt des unverhofften Sohnes zu ihm zurückkehrt. Vor dessen achtloser Anmut sieht die geschäftige Erwachsenheit des Mannes ganz alt aus - der Lockung des Wolfsjungen ist sie nicht gewachsen.

Dieser Film kommt zur gleichen Zeit in die Kinos wie der britische Streifen Probezeit („The Second Best“ mit William Hurt). Sie variieren beide, einer als Melodram, der andere als Groteske, das Thema ‚Vater und gefundener Sohn’, das seit Wim Wenders' Paris, Texas zusehends in Mode kommt und von Mel Gibson und Richard Harris, besonders aber von Muskelmann Sylvester Stallone forciert wurde (Rambo II, Over the Top, Rocky V). Es sind Parabeln über das Verhältnis der Generationen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Richtiger gesagt, über das Verhältnis von Kindlichkeit und Erwachsenheit. Denn es sind nicht, wie im Hollywood-Klischee, die Söhne, die nach ihren Vätern suchen, sondern die Väter suchen Söhne. Mal kitschig, mal dramatisch, hier irre-komisch: Männer, die ‚geworden sind, was sie aus sich gemacht haben’, stehen vor einem Bildnis ihrer selbst, als sie noch nichts geworden waren und noch alles sein konnten, reiben sich die Augen und fragen: Und wozu? Sicher werden Kinder groß, das soll wohl so sein. Aber ‚erwachsen’? - Es sind auch nicht liebe Kleine, die zu solchen Fragen Anlaß geben. Es sind Fast-Große. Schon aufgeweckt, aber noch nicht zur Vernunft gebracht. Schon geistreich, aber sehr leichten Sinns. Soeben keine Kinder mehr, aber desto unerwachsener.

Kindheit wird, wie alles Selbstverständliche, erst zum Thema, wenn sie verlorengeht. Aber hier wird eigentlich Erwachsenheit zum Thema: Die Geschichte vom erfolgreichen Arbeiter, der einem wilden Jungen erliegt, ist nur nach der einen Seite ein Unterhaltungsstück für die ganze Familie. Nach der andern ist sie eine Metapher für das Ende eines Zeitalters. Little Indian ist eine kulturphilosophische Satire auf die historische Überlebtheit des domestizierten Mannes.


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