Mittwoch, 31. Dezember 2014

Wer taugt zum Erzieher?



Es gibt Leute, die brauchen einen Schwächeren, den sie kommandieren können, um sich groß und stark zu fühlen. Und es gibt Leute, die brauchen einen Schwächeren, der ihnen auf der Nase rumtanzt, um sich groß und stark zu fühlen.

Diese taugen eher zum Erzieher als jene.

...diese taugen eher zum Katzen-, jene zum Hundehalter. 

aus e. Notizbuch, 12. 1. 06






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Montag, 29. Dezember 2014

Als Mann wird man nicht geboren.



Zum Mann muss man erst gemacht werden.

So war das früher. Erst mit Lederriemen und Rohrstöcken. Dann beim Militär hieß es: Wolln wir doch mal sehen, ob wir nicht richtige Männer aus euch machen! Damit war’s nicht genug. Dann musste er ein Mädchen zur Frau machen, Kinder zeugen und eine Familie ernähren. Und im Ernstfall musste er zeigen, was er beim Militär alles gelernt hatte. Und bei alldem war immer einer da, der ihn daran erinnerte, was ein richtiger Mann an seiner Stelle getan hätte.

So, wie es früher war, ist es nicht mehr. Inzwischen stellt sich heraus, dass sie auch dann zu Männern werden, wenn sie keiner mehr dazu machen will: Der Unterschied ist nicht so klein, wie gesagt wurde. Jetzt neigt die öffentliche Mainstreamung eher dazu, sie daran zu hindern. Da sie es aber doch nicht recht verhindern kann, muss sie sich damit bescheiden, sie wenigstens in ein nachhaltiges Schuldgefühl einzuüben.


Goya, Der Angeklagte



Sonntag, 28. Dezember 2014

Frauenhänden überlassen.




Ein Fluch, der auf der Frau lastet – genau das hat Michelet hervorgehoben -, besteht darin, daß sie in ihrer Kindheit Frauenhänden überlassen bleibt.

Simone de Beauvoir
Das andere Geschlecht, Hamburg 1949ff., S. 349

Nota. - Inzwischen lastet er auch auf uns.
JE




Samstag, 27. Dezember 2014

Wir hergelaufenen Söhne.










Ein Trupp hergelaufener Söhne schrie:
Bewacht, gefesselt des Kindes Glieder schon,
durch Liebe, die nur Furcht war;
waffenunkundig gemacht,
uns zu befreien,
sind wir Hasser geworden,
erlösungslos.


Als wir blutfeucht zur Welt kamen,
waren wir mehr als jetzt.
Jetzt haben Sorgen und Gebete
beschnitten uns und klein gemacht.


Wir leben klein,
wir wollen klein,
und unser Fühlen frisst wie zahmes Vieh
dem Willen aus der Hand.


Aber zu Zeiten klaftern Wünsche,
in unserem frühesten Blut erstarkt,
ihre Flügel adlerhaft, 
als wollten sie einen Flug wagen
aus der Erde Schatten.
Doch die Mutter der Sorgen und Gebete,
die Erde, euch verbündet,
lässt sie nicht von ihrem alten faltigen Leib.

Gottfried Benn


Freitag, 26. Dezember 2014

Ermutigen.



Was früher überschüssige Kräfte hieß und Rauflust, ist heute Gewaltbereitschaft und Aggression. Was früher als eine ärgerliche und unvermeidliche Begleiterscheinung des Heranwachsens galt, ist heute Anzeichen des Werteverfalls und Indiz des kulturellen Niedergangs. Nichts, was sich auswächst, sondern etwas, das es sozialhygienisch zu therapieren gilt.

Sicher gab es früher nicht weniger Handgreiflichkeit als heute. Aber eines ist wahr: Die heute zu beobachtende Verrohung war in den fünfziger, sechziger Jahren unvorstellbar. Was hat sich geändert?

Der oftbeschworene Werteverfall hat bereits stattgefunden; damals.

In meiner Kindheit und Jugend standen Ehre und Anstand in Ansehen. Nicht etwa, dass wir diese Wörter in den Mund genommen hätten, das taten nur Streber, die sich den Erwachsenen anbiederten. Bei uns andern waren es Selbstverständlichkeiten, die erst dann benennbar werden, wenn sie fehlen. Die Selbstverständlichkeit, die nur per negationem aussprechbar war, hieß Ich bin doch nicht feige. Zu zweit, dritt oder noch mehren über einen einzelnen Herfallen; auf einen einschlagen, der am Boden liegt; mit den Füßen treten, ja, einen schlagen der schon heulte und selbst obszöne Schimpfwörter grölen: das war feige. Was sich seither als Verrohung breit macht, ist nichts als zunehmende Feigheit.

Was hat die Zeitenwende im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren damit zu tun? 

Damals setzte sich die Auffassung durch, Ehre und Anstand seien ein spezifischer Männerwahn und ein Mythos, der nur der Verklärung des Jahrtausende alten Patriarchats diente. Das volle Menschsein emanzipieren hieß: lernen, wie wir mit unseren Bedürfnissen umgehen: „Was bringt mir das?“ Wo das Bedürfnis erheischte, dem Kampfe auszuweichen, war es jetzt mutig, dem Hohn der andern unerachtet das Hasenpanier zu ergreifen. Feige sein konnte nun auch ein Gebot der Klugheit sein, o ja. Eine Schande ist es seither jedenfalls nicht mehr: Über die Folgen berichten Fernsehen und Zeitungen jeden Tag. Die einen prügeln feige, die andern sehen feige weg.

Die einzig ‚nachhaltige’ Gewaltprävention wäre unserer Tage: Ehre und Anstand wieder zur Geltung bringen und Feigheit wieder zu einer Schande machen. Oder allgemeiner gesagt: unsere gesamte Kultur vermännlichen.

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Die Schule war schon immer eine Emaskulieranstalt.


Gemälde von Claus Meyer, 1898 

Jenes Institut, das sich heute unter dem Namen 'die Schule' über die ganze Welt verbreitet hat, ist in seinen Grundzügen in der Klöstern des mittelalterlichen Europa entstanden; als ein Ort, wo die von kriegerischen Rittern beherrschte Feudalgesellschaft mit der nötigen Dosis buchgelehrter Kleriker versehen wurde, die ein wenig Frieden bringen konnten - in die Herzen und, so Gott wollte, auch ein wenig in die Städte und Fluren. Sie waren mental gewissermaßen der 'weibliche' Teil in einer von männlichen Tugenden geprägten Adels- gesellschaft. Nicht, was vom heranwachsenden Ritter an männlichen Tugenden zu erwarten war, wurde dort gepflegt, sondern deren friedfertig ordnungsliebender Widerpart - Fleiß und Ausdauer. Die Mittel: stunden- langes Stillsitzen, Mundhalten, Nachsprechen und Repetieren. Während an den erstgeborenen Söhnen der herrschenden Kriegerkaste Kraft, Mut und Abenteuergeist gefördert wurden, mussten sich ihre nachgeborenen Brüder in Sanftmut, Frömmigkeit und - nun ja, Verschlagenheit üben. Die Schule war nicht - schon damals nicht - der Ort, wo Jungen Männer werden durften.


In dem Maße, wie die Gesellschaft bürgerlicher wurden, kamen neben den Jungenschulen auch Institute für Mädchen auf, und als die industrielle Revolution der neunzehnten Jahrhunderts die bäuerliche Bevölkerung zu Industriearbeitern proletarisierte, wurde die Elementarschule zur Pflicht und das pfäffische Ideal des arbeitsa- men Duckmäusers zur Norm. Für die Mädchen nun auch wie für die Jungen. Und beim Lehrpersonal der Volksschulen waren die Frauen bald typischer als die Männer.

Natürlich hat sich im zwanzigsten Jahrhundert allerhand getan, der industrielle Tagelöhner ist auch schon längst nicht mehr der Standardfall des Arbeitslebens. Der höherqualifizierte Angestellte, dem man auch schonmal eigene Entscheidungen zumuten konnte - idealiter: der Staatsbeamte - wurde zum Produktionsziel der allgemeinbildenden Schulen, und dazu taugen Mädchen mindestens ebeno wie Jungen; wenn nicht mehr!

Fragen Sie sich jetzt immer noch, wie es kam, dass unsere Schulen zur Vorbereitung weiblicher Karrieren in der postindustriellen Berufswelt besser geeignet sind als zur Entwicklung männlicher Talente? Die Schule war noch nie was für Jungen. Sie war immer was gegen Jungen. 


Aber natürlich.


Lothar Sauer

Jungens stehen vom ersten Tag an stärker unterm Einfluss von Testosteron als Mädchen, Mädchen stärker unterm Einfluss von Östrogen.

Man müsste sich ja fragen, was sich die Natur dabei gedacht hat, wenn das keinen Unterschied im Verhalten ausmachen würde.




Dienstag, 23. Dezember 2014

Korrekter spielen lernen.

Robert Doisneau aus nzz.ch, 22. 12. 2014

Gender-Forschung 

«Biologische Einflüsse sind schwer nachweisbar» 

Interview: Katrin Schregenberger


Frau Maihofer, weshalb spielen Buben mit Autos und Mädchen mit Puppen? 

Soziale Faktoren sind entscheidend. Dies genau aufzuzeigen, ist aber sehr schwierig. Hier wirkt die Akkumulation verschiedener Verhaltensweisen. 


Welches konkrete Verhalten meinen Sie? 

Ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt werden Buben und Mädchen unterschiedlich behandelt. Ihnen wird beispielsweise Unterschiedliches vor die Augen gehalten oder in die Hände gedrückt. Dadurch entwickeln sie verschiedene Interessen. Es laufen viele kleine Prozesse ab, die dazu führen, dass ein Bub zum Auto greift. Dass er zuvor 100 Mal ein Auto in die Hand gedrückt bekommen hat, daran denkt man dann nicht mehr. 


Gibt es noch andere Einflüsse? 

Ebenfalls eine grosse Rolle spielen die Medien: Von allen Seiten wird Kindern und Eltern vorgehalten, wie ein Bub zu sein hat und wie ein Mädchen. Wir wissen aber inzwischen, dass Umwelteinflüsse die Hirnentwicklung von Kindern sehr stark beeinflussen. 


Spielt Biologie auch sonst eine Rolle? 

Sicher spielt sie irgendwie eine Rolle. Aber wie, das ist schwer festzustellen. Denn sobald Kinder auf der Welt sind, werden sie beeinflusst. Dabei werden Buben bezogen auf Spielzeug viel stärker gesteuert als Mädchen. 


Also spielt die Biologie aus Ihrer Sicht keine Rolle? 

Als sozialwissenschaftlich arbeitende Geschlechterforscherin entscheide ich mich von Anfang an, die Einflüsse für die kindliche Entwicklung zu untersuchen, die wir beobachten können. Und die sind sozialer Art. Demgegenüber sind die biologischen Prägungen nur schwer nachweisbar. 

Forscher haben allerdings herausgefunden, dass bereits einen Tag alte Babys unterschiedliche Interessen aufweisen. Buben schauen häufiger und länger Gegenstände an, während Mädchen personenbezogener sind. Was sagen Sie dazu? 

Das scheint mir problematisch zu sein. Da müsste man genau schauen, wer diese Studie wie gemacht hat. Es ist schwierig, das nachzuweisen. Ich bin keine Biologin. Aber die Geschlechterforschung zeigt, dass biologische Einflüsse auf unterschiedliches Spielverhalten schwach sind. Sonst könnte man sich dem ja nicht entziehen.* Aber es sind ja nicht alle Mädchen so: Manche spielen mit Autos. 

Stellen Sie die biologisch-psychologische Forschung als Ganzes infrage? 

Wir wissen, dass scheinbar objektive naturwissenschaftliche Erkenntnisse stark von den normativen Vorstellungen der Forschenden beeinflusst sind. So galt es noch bis vor kurzem als bewiesen, dass Homosexualität unnatürlich ist. Mit der wachsenden Akzeptanz der Homosexualität zeigen Forschungen vermehrt, wie verbreitet bei vielen Tieren homosexuelle Praktiken sind. Auch basieren viele naturwissenschaftliche Forschungen auf sehr kleinen Fallzahlen, so wird in der Hirnforschung oft mit 5 bis 10 Personen gearbeitet. Das macht die Verallgemeinerung der Ergebnisse problematisch. 


Psychologen argumentieren, das unterschiedliche Spielverhalten sei sowohl in verschiedenen Kulturen als auch bei Tieren zu beobachten. Es sei universell. 

Es gibt so viele Studien, die ganz unterschiedliche Aussagen machen [oh! Nur 'die Geschlechterforschung' ist davon ausgenommen?] Aber Daraus abzuleiten, das Spielverhalten sei biologisch bedingt, ist sehr problematisch. Die soziale Prägung aber lässt sich direkt beobachten. 

Welche Belege liefert die Gender-Forschung hierfür? 

Zum Beispiel die Tests mit unterschiedlich gekleideten Kindern: Wird ein Kind blau angezogen, nehmen die Leute an, es handle sich um einen Buben. Deshalb gehen sie mit dem Kind anders um: Seine Stärke wird hervorgehoben, während bei Mädchen die Schönheit gelobt wird. Dieses Beispiel zeigt, wie Kinder von Beginn an geprägt werden. Und ausserdem: Wenn das Ganze biologisch festgelegt wäre, wieso sollten wir uns mit der Erziehung dann so viel Mühe geben? Mit der Sozialisierung hingegen kann man Einfluss nehmen und das verändern, was man nicht so gut findet. Durch Erziehung kann man das Spektrum der Kinder zum Beispiel erweitern. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung. 

Geht es dann nicht eher um Ideologie als um Forschung? 

Jede Forschung geht von kulturell bestimmten Annahmen aus. Das beeinflusst, was gesehen oder gemessen wird. Forschung ist immer kulturell geprägt. 


Nun, Ideologie hin oder her: Viele Buben wünschen sich nun einmal ein Auto. 

Ja, weil besonders kleine Kinder gerne dem entsprechen, was von ihnen erwartet wird. Kinderfilme oder Werbung zum Beispiel führen ihnen permanent vor, was sich ein Bub oder ein Mädchen wünschen sollte. 


Was für Auswirkungen hat Spielzeug? 

Spielzeug führt Kinder in das Leben ein. Es kann spätere Lebensentscheidungen wie die Berufswahl beeinflussen. 


Sollen Eltern ihrer Tochter also lieber keine Puppe zu Weihnachten schenken? 

Ein Geschenk soll ja Freude machen. Man sollte den Kindern aber auch andere Angebote machen. Dabei geht es nicht darum, alle Kinder gleich zu machen, sondern darum, Unterschiede zwischen Buben und zwischen Mädchen möglich zu machen. 


Andrea Maihofer ist Professorin für Geschlechterforschung und Leiterin des Zentrums Gender-Studies in Basel. 

*) Glaubt sie das im Ernst: Wo eine biologische Disposition vorhanden ist, wirkt Kausalität wie in einem Uhrwerk?!  Was ein Glück, dass sie keine Biologin geworden ist, sondern nur eine sozialwissenschaftlich arbeitende Geschlechterforscherin. JE 


Nota. An dem (wissenschaftlich) ausschlaggebenden Punkt hat sie ja Recht: Soziale Prägungen lassen sich im Experiment verhältnismäßig leicht beobachten; biologische nicht. Nur ist es gar nicht das, worauf es der feministischen Ideologin wirklich ankommt. Sondern: was sich im Experiment leicht beobachten lässt, das lässt sich in der Erziehung beeinflussen (manipulieren sagt man heut nicht mehr). Und das ist es, worum es ihnen geht; nicht um die Wissenschaft. Denn dass sie es beeinflussen wollen, das jubeln sie uns klammheimlich unter, ganz ohne Begründung.

Ich aber sage: Es ist gut, wenn Jungen wie Jungen aufwachsen können. Das wollen die Jungen so, und als Männern ist es ihnen selten leid. Was (oder wer) spricht also dagegen?

JE

Montag, 22. Dezember 2014

Jungen spielen mit Autos, Mädchen mit Puppen.

Lothar Sauer
aus nzz.ch, 22.12.2014, 05:30 Uhr

Wenn Kinder spielen
Weshalb vertreiben sich Buben und Mädchen unterschiedlich ihre Zeit? Greifen Buben aus biologischen Gründen zum Spielzeugauto? Und: Ist das schlimm?

von Katrin Schregenberger

Die Weihnachtszeit ist die Zeit der Bescherungen – und dies nicht nur unter dem Weihnachtsbaum. Auch für Spielzeughersteller ist es eine segensreiche Zeit, die viel Geld in ihre Kassen spült. In Scharen strömen Mütter und Väter in die Spielzeugpaläste und boxen sich mit Ellbogen zu den Wünschen ihrer Kinder durch. Das Ziel ist dabei oft an seiner Farbe erkennbar: die blauen Regale für Bubenträume, die rosa Ecken für Mädchenwelten. Die Hersteller scheinen die Wünsche der Kinder immer genauer anzupeilen.


Schiessende Mädchen

Von den Herstellern wird das Offensichtliche nicht gern bestätigt. «Wir bieten verschiedene Themenwelten, mit denen wir Jungen und Mädchen ein möglichst vielfältiges Angebot für alle Altersklassen und Interessen machen», sagt Katharina Redmonds, Pressesprecherin von Lego. Dabei stand auch dieser Hersteller bereits in der Kritik . Stein des Anstosses war das 2012 lancierte Set «Lego Friends», das sich explizit an Mädchen richtet. Es ist eine rosarote Welt mit fünf schlanken Puppen-Freundinnen, die kochen und sich stylen. Sogar einen Laufsteg hat es. Die Serie habe man zusammen mit Mädchen und Müttern entwickelt, weil Mädchen von vielen Produkten weniger angesprochen würden. Stereotyp seien die Figuren nicht. Im Sommer hat Lego auf Kritik reagiert und weibliche Wissenschafterfiguren ins Sortiment aufgenommen. Auch andere Spielzeughersteller sind auf Vorwürfe eingegangen und haben geschlechtsneutrale Spielzeugkataloge produziert, in denen Mädchen mit Spielzeugpistolen schiessen und Buben Puppen föhnen. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Buben und Mädchen je andere Spielzeuge bevorzugen. Doch weshalb eigentlich?


Um diese Frage rankt sich seit Jahrzehnten eine Fehde zwischen der Gender-Forschung und den Biologen und Psychologen. Am härtesten wurde der Kampf, befeuert vom Feminismus, zwar in den 1970er und 1980er Jahren geführt. Die Gräben sind aber auch heute nicht ganz überwunden. Auf der einen Seite stehen Sozialisationstheorien, auf der anderen biologische und psychologische Erklärungsmuster. «Kinder können ab dem zweiten Lebensjahr Mann und Frau unterscheiden», sagt Pasqualina Perrig-Chiello, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Bereits vorher lasse sich aber unterschiedliches Spielverhalten beobachten. Dass Sozialisation einen Einfluss habe, sei in der Psychologie unbestritten. Sie könne aber nicht alles erklären. Zum Beispiel hätten Studien gezeigt, dass das geschlechtstypische Spielverhalten universell sei: Überall auf der Welt lasse sich ähnliches Spielverhalten beobachten, obwohl Rollenmodelle andersartig gelebt würden. Zudem fänden sich diese Unterschiede auch bei Primaten.



Erklärt werden diese Unterschiede in der Biologie und der Psychologie unter anderem durch die Befunde aus der Hormonforschung: In verschiedenen Versuchen wurde gezeigt, dass der Anteil männlicher Hormone sogar schon im Mutterleib mit dem späteren Spielverhalten in Verbindung steht. «Für dieses Erklärungsmuster gibt es recht viel Evidenz», sagt Moritz Daum, Professor am Lehrstuhl Entwicklungspsychologie der Universität Zürich. In einem Versuch seien frisch geborenen Rattenweibchen männliche Hormone gespritzt worden. Das Spielverhalten dieser weiblichen Ratten habe sich danach von jenem anderer unterschieden. Ihr Spiel war aggressiver.

Die Hormone spielen mit

Auch beim Menschen gibt es diesen hormonellen Einfluss: Wenn bei Mädchen oder Frauen die Produktion männlicher Geschlechtshormone stark erhöht ist (wie zum Beispiel im Falle des adrenogenitalen Syndroms), wird ein eher «männliches» Spielverhalten gezeigt. «Hormone haben sicher einen Effekt. Das heisst aber nicht, dass sie alles erklären können», sagt Daum. Wie hoch der Anteil männlicher Hormone ist, ist genetisch festgelegt. Beweist das den biologischen Ursprung des Spielverhaltens? «Von Beweisen redet man in der Wissenschaft lieber nicht», gibt Daum zu bedenken. Es gebe aber überzeugende Befunde, die auf einen bedeutsamen Einfluss hinwiesen.


Die Ergebnisse der Psychologie werden in den Gender-Studien stark infrage gestellt (siehe Interview). «Die Settings wissenschaftlicher Studien sind oft schon vergeschlechtlicht», sagt Fabienne Amlinger vom Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung in Bern. Die Ergebnisse würden dadurch beeinflusst.



Hinter der Debatte, ob Biologie oder Umwelt Ursache des Spielverhaltens ist, steht eigentlich eine andere Frage: Worin liegt der Ursprung der Geschlechter? Die Aufteilung in Mann und Frau ist aus der Sicht der Gender-Forscherinnen fragwürdig: «Was als männlich oder weiblich gesehen wird, hat sich über die Zeit und die Kulturen hinweg verändert. Es gibt beachtliche Unterschiede innerhalb dessen, was als männlich und was als weiblich gesehen wird. Die Aufteilung in zwei Geschlechter ist folglich unterkomplex», sagt Fabienne Amlinger. Geschlecht hin oder her, ist genderspezifisches Spielzeug schädlich?


Je breiter, desto besser

Durchaus, finden die Gender-Forscherinnen. «Was bringt vergendertes Spielzeug?», fragt Fabienne Amlinger. «So werden nur Geschlechterrollen zementiert, was den Denkhorizont der Kinder trotz ihrer Kreativität einschränken kann», fügt sie an.


Wie Kindern Spielzeug suggestiv untergejubelt wird, war Forschungsgegenstand eines nationalen Forschungsprogramms . Darin wurden Spielzeuge und deren Verwendung in Krippen untersucht. Die Forscherinnen entdeckten zweierlei Mängel: Einerseits die räumliche Trennung von «männlichem» und «weiblichem» Spielbereich. Andererseits fehlten an Orten des Rollenspiels – zum Beispiel in einer Spielküche – Requisiten für männliche Parts. «So werden den Kindern Rollenbilder vermittelt, die sie aufnehmen», erläutert Franziska Vogt, Professorin für Lernforschung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, die am Projekt beteiligt war. Die Interessen der Kinder würden so beeinflusst – möglicherweise bis zur Berufswahl.


Doch: Hat Spielzeug wirklich einen so grossen Einfluss auf unser weiteres Leben? Wird ein Mädchen eher Ingenieurin, wenn es als Kind mit Bauklötzen gespielt hat? «Diese Sicht ist zu eindimensional», sagt der Entwicklungspsychologe Moritz Daum. Zwischen Spielzeug und Berufswahl lägen noch zu viele andere Einflüsse. Dass Spielzeug unsere kognitiven und sozialen Fähigkeiten aber ganz generell beeinflusst, ist unbestritten: «Im Spiel werden Rollen des späteren Lebens eingeübt», sagt Professorin Pasqualina Perrig-Chiello. Je mehr unterschiedliche Rollen durchgespielt würden, desto besser. 


«Wenn ein Mädchen immer nur Prinzessin spielt, hat es nachher eine schmale Erfahrungsbasis, auf die es zurückgreifen kann», fügt sie an. In diesem Punkt sind sich Gender-Forscher und Psychologen also einig: je breiter die Palette, desto besser. Perrig-Chiello warnt aber davor, Spielzeug überzubewerten: «Kinder sind nicht einfach eine Münze, die geprägt wird, sondern sie haben eine eigene Persönlichkeit.» 



Nota. - Wenn's die Hormone sind, dürfen die Jungens ihre Autos behalten. Ist es die Sozialisation, müssen sie sie gegen Puppen eintauschen. Und wenn man zeigen könnte, dass ihr Bewegungsdrang den Jungens auch bloß ansozialisiert wird, könnte man sie endlich ruhigen Gewissens zum Stillesitzen verdonnern...

Ich mache eine Wette: Unter denen, die meinen, Kinder sollten kein geschlechtsspezifisches Spielzeug bekommen, sind die Anhänger der Ganztagsschule überproportional vertreten; und umgekehrt. - Hält wer dagegen?

JE


Sonntag, 21. Dezember 2014

Dick und arm und doof: soziale Morphologie.

zeit.de
aus Der Standard, Wien, 21. Dezember 2014, 09:00

Gewicht macht Schule
Das soziale Umfeld wirkt sich auf Größe und Gewicht der Kinder aus - das hat ein Wiener Forscher herausgefunden

von Peter Mayr

Soziale Herkunft schlägt sich in Größe und Gewicht von Kindern nieder. So lautet die Kernbotschaft einer Studie von Stefan Riedl, Kinderarzt und Hormonspezialist am St.-Anna-Kinderspital und an der Kinderklinik des AKH in Wien. Der Wissenschafter hat die Daten von tausenden Kindern sortiert, Körpergröße und Gewicht analysiert, sozioökonomische Einflüsse mit eingerechnet - und verglichen, verglichen, verglichen. Riedl interessierte vor allem eines: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Körpermaßen und Bildungsstand? Oder anders ausgedrückt: Braucht es nur einen Blick auf ein Kind, um zu wissen, welchen Schultyp es besucht? Bei aller Vorsicht vor einer zu groben Generalisierung sieht Mediziner Riedl eine deutliche Tendenz in diese Richtung.

Ein Messbus am Weg

Seine Forschungsergebnisse, die demnächst in einem amerikanischen pädiatrischen Fachjournal erscheinen werden, beruhen auf einer Erhebung aus dem Jahr 2010. Damals fuhr ein Messbus der Arbeitsgemeinschaft für Kinder-Endokrinologie quer durch Österreich, erfasst wurden Größe, Gewicht und Sitzhöhe von Schülern und Schülerinnen. Letztere erlaubt Rückschlüsse auf die Proportionen. Ziel war es, aktuelle Wachstumskurven für Österreich zu erstellen. Also wurde die Größe und Gewicht aber auch die Sitzhöhe erhoben. Am Ende waren 15.000 Kinder und Jugendliche aus allen Altersgruppen vermessen - eine große Auswahl, die dementsprechend sehr aussagekräftige Rückschlüsse zulässt.

Schlank bleibt schlank

Der Datensatz erlaubt aber auch eine neue Sicht auf Österreichs Schüler. "Die große Krise", wie es der Endokrinologe nennt, ist das Gewicht. Hier gilt: Schlank bleibt schlank. Immer wieder neu definiert wird hingegen, was als dick oder adipös gilt. "Wir sind schon deutlich über den Wert von vor 25 Jahren gerutscht", sagt Riedl. Waren damals zirka zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen definitionsgemäß übergewichtig oder adipös, sind es heute mehr als doppelt so viele. Bei der neuen Studie geht es Riedl "um die Fragestellung, wie sich soziale Faktoren auf den Körper auswirken".
Am leichtesten lassen sich die Unterschiede bei den 11- bis 16-Jährigen zeigen, wo durch die Schulwahl zwangsläufig eine soziale Differenzierung begünstigt wird. Der errechnete Mittelwert bestätigte die Annahme: Haupt- und NMS-Schüler sind tatsächlich kleiner und wiegen mehr als gleichaltrige Gymnasiasten. Wer in die Hauptschule oder Neue Mittelschule geht, hat bei gleicher Größe 1,8 bis 2,7 Kilogramm mehr Gewicht, wobei die Kilogramm speziell bei den 16-Jährigen hochschnellen. "Eine Erklärung für diesen Anstieg ist, dass Jugendliche am Ende der Pflichtschulzeit selbstständiger sind, was sich auf Ernährungs- und Lebensgewohnheiten auswirkt", mutmaßt Riedl.

"Verklärte Sichtweise"

Noch etwas lässt sich aus den Daten ableiten: Das gesunde Landleben sei "eine verklärte Sichtweise". Tendenziell dick sind die Wiener, dann kommen aber schon die Landkinder. Vergleichsweise gut haben es jene Kinder erwischt, die aus mittelgroßen Städten kommen. "Dass Menschen auf dem Land gesund essen, ist eine Mär", sagt der Mediziner. Untersuchungen zeigen, dass sich die Ernährungsgewohnheiten von den Städten längst aufs Land übertragen haben. Warum schneidet Wien schlecht ab? "Der Anteil bildungsferner Schichten ist größer. Das hat Auswirkung auf die Ernährung, aber auch auf Freizeitaktivitäten wie Sport."
Ähnliches wurde schon in der Schweiz ermittelt. Das Sportinstitut an der ETH Zürich hat sportmotorische Daten mit der sozialen Herkunft verknüpft. Das Ergebnis: Die "Rangliste mit den höchsten versteuerten Einkommen sieht jener mit den besten sportmotorischen Resultaten sehr ähnlich", schrieb die Neue Zürcher Zeitung.
Bei der aktuellen österreichischen Messung zeigt sich, dass die Diskrepanz bei der Größe im Vergleich zum Gewicht nicht so stark ausgeprägt ist. Im Durchschnitt sind Hauptschüler um 0,93 Zentimeter kleiner als ihre Altersgenossen im Gymnasium. Bei den Älteren dürfte sich diese Kluft noch verstärken, da Übergewicht die Pubertät früher auslösen kann und dadurch der Wachstumsschub bei AHS-Schülern vergleichsweise später einsetzt. Dass die soziale Schicht die Größe mitbestimmt, wurde auch schon Anfang des 20. Jahrhundert ermessen: Damals waren es drei bis sechs Zentimeter, die sich ein Nicht-Arbeiter von einem Arbeiter abhob. Seit den 1960er-Jahren hat sich dieser Unterschied auf 1,5 Zentimeter reduziert - bislang ist es dabei auch geblieben.

Große verdienen mehr

Riedl verweist auf Studien, welche die Körpergröße in Beziehung zum Einkommen setzen. In einer Studie der University of Florida heißt es: "Die Ergebnisse zeigen, dass großgewachsene Menschen einen Vorteil in vielen wichtigen Bereichen bezüglich Karriere haben" - große Menschen verdienen demnach eher mehr als kleinere. Die gute Nachricht für Kleinergewachsene: Es gibt auch andere Variablen, wie kognitive und soziale Fähigkeiten, die den pekuniären Erfolg beeinflussen. Insofern handelt es sich nicht gleich um irreversible Gesetzmäßigkeiten.
Dass er mit derlei Messdaten Angriffsflächen bietet, ist Riedl bewusst: "Es bringt doch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Das muss aktiv angegangen werden." Mit "das" meint er Österreichs gegliedertes Schulsystem: "Es sollte nicht sein, dass sich in den Messwerten Gewicht und Größe das Bildungsniveau widerspiegelt." Kurzfristig müsse es in den Risikogruppen Ernährungserziehung geben, sagt der Mediziner. Helfen könnte die Reform des Systems für Grund- und Pflichtschule. Spannend wäre dann zu sehen, sagt Mediziner Riedl, ob sich - neben der besseren Aussicht auf Chancengleichheit bezüglich höherer Bildung, wie viele Experten überzeugt sind - ein "sekundärer, positiver Effekt auf die Übergewichtsepidemie" einstellt.
Es sollte nicht sein, dass sich in den Messwerten Gewicht und Größe das Bildungsniveau widerspiegelt.


Nota. -  Ob gegliedert oder ungegliedert oder kuddelmuddel, das kann mir ja wurscht sein (darf man in Österreich jetzt sagen); Hauptsache, sie rühren den freien Nachmittag nicht an. Aber sie, das sind offenbar immer dieselben, und wenn ich lese, was sie aufbieten, um gegen das gegliederte Schulsystem zu mosern, denke ich, an dem muss was dran sein. Aber ob ich sie richtig verstehe, weiß ich nicht: Wollen sie bloß die Dicken mit den Dünnen vermengen, dass man den Unterschied nicht mehr so sieht, oder sollen die Dünnen auch ein bisschen dicker werden?
JE




Freitag, 19. Dezember 2014

Tägliche Bewegungseinheitssicherstellungsverordnung.

aus Der Standard, Wien, 16. Dezember 2014, 12:54

Ganztagsschule: 
Tägliche Bewegungseinheit passierte Ministerrat
Öffnung der Schulen für Vereine und Sporttrainer - Stärkere Qualitätssicherung an Ganztagsschulen in Lern- und Freizeitteil 

Wien - Ab dem Schuljahr 2015/16 wird an Ganztagsschulen täglich eine Bewegungseinheit stattfinden. Eine entsprechende Gesetzesnovelle passierte am Dienstag den Ministerrat. Realisiert wird dies durch Turnstunden und Sport im Freizeitteil, dafür will man vermehrt Trainer aus Vereinen an Schulen holen.

Fünf Einheiten pro Woche

Ganztagsschulen dürfen zwar weiterhin autonom festlegen, wie viel Zeit für Lernen und Freizeit vorgesehen ist. Künftig sind dabei aber "Bewegungseinheiten in ausreichender Zahl sicherzustellen", sodass es fünf davon pro Woche gibt, heißt es in der Novelle. Außerdem dürfen nicht mehr nur Freizeitpädagogen im Freizeitteil die Schüler betreuen, sondern auch Sporttrainer. Für Trainer wird die Anerkennung bestehender Qualifikationen an Pädagogischen Hochschulen (PH) deshalb erleichtert, zusätzlich wird ein zusätzlicher Ausbildungsweg zum "Bewegungscoach" neu etabliert.


Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) erwartet sich "durch die Öffnung für Sportvereine und für Trainerinnen und Trainer" eine wesentliche Verbreiterung und Attraktivierung des Angebots, erklärte sie in einer Aussendung. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) sprach am Rande des Ministerrates von einem "Durchbruch für tägliche Bewegung unserer Kinder".

"Qualitätsoffensive"

Ein zweiter Punkt der Novelle soll eine "Qualitätsoffensive" bei den Ganztagsschulen bringen: Künftig werden auch die Aufgaben und Ziele von Lernzeit bzw. die Ausgestaltung von Freizeit über die Betreuungspläne als Teil der Lehrpläne aufgenommen und präzisiert. Die Qualitätssicherung soll auch in diesem Bereich die Schulaufsicht übernehmen, erklärte Heinisch-Hosek. Und schließlich wird Gesundheitsbewusstsein und eine "sportlich aktive Lebensweise" noch im Gesetz als Aufgaben der Schule festgeschrieben. (APA)


Nota. - Freizeit, Betreuungspläne, Qualitätssicherung, festschreiben: Sinnvoller spielen lernen!
JE




Donnerstag, 18. Dezember 2014

Keine Angst vor Horrorfilmen.

aus Der Standard, Wien, 17. 12. 2014

Erwachsene machen sich häufiger in die Hose
Fernsehen genießt in der Erziehung kein hohes Ansehen - Der Medienwissenschafter Jürgen Grimm konnte trotzdem positive Effekte von Filmen auf die Identitätsbildung von Jugendlichen zeigen

von Johannes Lau

Wien - "Im Kino gewesen. Geweint", schrieb Franz Kafka nach einem Abend im Lichtspielhaus in sein Tagebuch. Spielfilme können schließlich eine viel tiefere Wirkung auf den Menschen haben, als bloß für eine Weile vom Alltag abzulenken. Daher fragt sich, was Filme gerade mit denen machen, deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist - Kinder und Jugendliche.


Allgemein bezweifeln Erwachsene gerne, ob das Medium Film einen guten Einfluss auf den Nachwuchs hat. Das Buch hat in der Erziehung häufig einen höheren Stellenwert. Spielfilme dagegen stehen meist im Verdacht, den jungen Charakter zu verderben und nicht zur Bildung beizutragen. Am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien sieht man das etwas anders.


"Üblicherweise wird im Jugendmedienschutz danach gefragt, welche Beeinträchtigungen die Rezeption eines Filmes für Jugendliche mit sich bringt. Wir fragen danach: Inwieweit helfen Kinofilme Jugendlichen bei der Bewältigung von Alltagsproblemen und der Lösung von Identitätskonflikten?", sagt Jürgen Grimm, der zu diesem Thema in Deutschland eine umfangreiche Untersuchung durchgeführt hat.


Die Studie wurde in Kooperation mit dem Familienministerium des Landes Rheinland-Pfalz und der führenden deutschen Filmprüfstelle, der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), an deren Sitz in Wiesbaden durchgeführt. In Wien wurde die Studie erstellt und deren Ergebnisse ausgewertet.
In der laut Grimm europaweit bisher größten Untersuchung dieser Art wurden 400 männliche und weibliche Jugendliche unterschiedlicher Bildungsniveaus befragt - 40 Prozent hatten einen Migrationshintergrund. Die ausführlichen Befragungen führte man bevor und nachdem die Heranwachsenden zeitgenössische Filme gesehen hatten durch - etwa den ersten Teil der Science-Fiction-Reihe The Hunger Games oder das Neonazi-Drama Kriegerin. Ausgewählt wurden für die Studie bei Jugendlichen erfolgreiche Filme, die für die Identitätsbildung in diesem Alter relevante Themen ansprechen und für Jugendliche attraktiv genug sind, um eine engagierte Rezeption zu gewährleisten.

Bestätigung für Cineasten

"Das Neue bei unserem Ansatz ist der Einsatz von ganzen Filmen", sagt Grimm. Normalerweise werden in der Medienwirkungsforschung bislang eher einzelne Ausschnitte wie zum Beispiel Gewaltdarstellungen verwendet. "Daher sind unsere Ergebnisse umfassender und komplexer, als dass das bei solchen Studien sonst der Fall ist."
Vom Ausgang der Untersuchung können sich Cineasten bestätigt fühlen: Schließlich zeigten sich durch die Filmrezeption im Durchschnitt vor allem positive Effekte im Hinblick auf die Identitätsbildung der Jugendlichen.
Bei den meisten Befragten habe sich die nationale Identifikation in die kosmopolitische Richtung geweitet. Auch starre Vorstellungen von Geschlechterrollen seien aufgeweicht worden: Für die Mehrheit der pubertierenden Buben sei die Vorstellung von einer starken Frau weitaus weniger abwegig gewesen, nachdem sie Jennifer Lawrence als toughe Katniss Everdeen in Die Tribute von Panem gesehen hatten.
Das habe ihn im Umfang der Wirkung überrascht, sagt Grimm: "Unsere Ergebnisse haben zwar auf der einen Seite die Erkenntnisse von Jugendstudien der letzten Zeit belegt. Dass sich aber gerade die Burschen so von den hier gezeigten Frauenbildern beeindrucken lassen, hatten wir nicht erwartet."
Jedoch lasse sich das am Ende einfach erklären: Bei der Filmrezeption Jugendlicher geht es hauptsächlich darum, spielerisch Identitäten auszuprobieren. Durch die realen Umstände in der Familie und ihrer weiteren Umwelt sind sie in ihrer Identität schon vorgeprägt.
"Heranwachsende orientieren sich grundsätzlich an anderen des gleichen Geschlechts. Die Kinorezeption ermöglicht aber auch in jener Hinsicht eine Erweiterung dieses Angebots von Identitätsmöglichkeiten", sagt Grimm.
Ohnehin werde nach der Meinung des Wiener Medienwissenschafters die Fähigkeit Jugendlicher, das Gesehene kritisch zu reflektieren, unterschätzt. So haben viele Erwachsene die Vorstellung, dass Filme Kindern häufig Angst machen.
In einer anderen Studie, die Grimm und seine Mitarbeiter durchgeführt haben, stellte sich jedoch heraus, dass es sich genau andersherum verhält: Erwachsene reagierten etwa auf Horrorfilme viel stärker mit Angst, als es die Jugendlichen taten.

Realität und Darstellung

Die Heranwachsenden hatten schon eine entsprechende Medienkompetenz aufgebaut und konnten sich daher leichter vom Geschehen auf der Leinwand distanzieren. Erwachsene, die nicht entsprechend sozialisiert waren, hatten es erheblich schwerer, sich bei Splatter-Filmen und anderem nicht zu gruseln.
Grimm verweist darauf, dass es sich hierbei um einen evolutionären Prozess handelt. Als die Gebrüder Lumière 1895 in Paris die Aufnahme eines einfahrenden Zugs zeigten, verließen Zuschauer noch panisch die Vorführung. Heute kann jedes Kind sehr früh zwischen Realität und Mediendarstellung unterscheiden.
Grundsätzlich bedeuten die Ergebnisse der Studie aber nicht, dass Eltern nun beruhigt die Erziehung den verschiedenen Medien überlassen können, wie Grimm, der seit 25 Jahren im Jugendschutz tätig ist, betont. Erziehungsberechtigte, die sich derzeit Sorgen machen, ob sie ihren Kindern vernünftige Medieninhalte unter den Christbaum legen oder mit den Sprösslingen förderliche Weihnachtsvorstellungen besuchen sollen, kann der Kommunikationsforscher mit dem Verweis auf die entsprechenden Altersempfehlungen beruhigen.
Die kommen schließlich nicht willkürlich zustande, sondern werden von entsprechenden Experten ermittelt. Jedoch mahnt er, sich nicht ausschließlich darauf zu verlassen, sondern sich auch selbst mit den Inhalten vorab auseinanderzusetzen: "Sie können Jugendschutz nicht durch staatliche Kontrolle und entsprechende Verbote gewährleisten", sagt Grimm.
Dafür gebe es heutzutage allein schon durch das Internet zu viele Verbreitungswege, die man nicht regulieren könne. So kommen die Eltern nicht darum herum, darauf zu "achten, was die Kinder so spielen, lesen und schauen".  



Sonntag, 14. Dezember 2014

Weniger Hausaufgaben?

aus derStandard.at, 11. Dezember 2014, 17:56

Österreichische Schüler machen mehr Hausübungen
In den meisten anderen Staaten sank die für Hausübungen aufgewendete Zeit zwischen 2003 und 2012

Wien - Die österreichischen Schüler wenden im Unterschied zur Tendenz in fast allen anderen OECD-Staaten immer mehr Zeit für Hausübungen auf. Das zeigt eine am Donnerstag veröffentlichte Spezialauswertung der PISA-Studie 2012. Trotzdem haben die heimischen 15-Jährigen damit erst in etwa den OECD-Schnitt erreicht.
Neben der Lösung der Aufgaben müssen die getesteten Schüler bei PISA auch einen Fragebogen ausfüllen, in dem unter anderem die mit Hausübungen verbrachte Zeit abgefragt wird. 2012 waren das im OECD-Schnitt fast fünf Stunden wöchentlich, die Österreicher kamen auf rund viereinhalb Stunden. Dabei ist die Bandbreite relativ hoch: Die bei PISA im Spitzenfeld befindlichen Länder Finnland und Südkorea kamen auf nur rund zwei Hausübungs-Stunden pro Woche, die noch bessere PISA-Werte erzielende Nicht-OECD-Region Shanghai auf 14 Stunden.

Hausübungen werden im Durchschnitt weniger

Interessant ist der Vergleich mit dem Jahr 2003: In 31 von 38 Ländern sank die für Hausübungen aufgewendete Zeit pro Woche, im OECD-Schnitt insgesamt um eine ganze Stunde von knapp sechs auf rund fünf Stunden. Einzig in Österreich und Australien war ein signifikantes Plus zu verzeichnen - um etwa 35 Minuten (Österreich) bzw. knapp 20 Minuten (Australien).
Die OECD führt den generellen Rückgang der für Ausübungen aufgewendeten Zeit auf eventuell geänderte Lehrereinstellungen und den zunehmenden Einfluss des Internets zurück. Darüber hinaus habe eine PISA-Untersuchung gezeigt, dass die über vier Stunden hinaus investierte Zeit einen nur vernachlässigbaren Effekt auf die Leistung hat. In allen Teilnehmerstaaten hat sich außerdem gezeigt, dass sozioökonomisch besser gestellte Schüler mehr Zeit mit Hausübungen verbringen als sozial benachteiligte. (APA)


Nota. -  Wie es mit den Hausaufgaben in Deutschland aussieht, habe ich nicht herausfinden können. Das würde mich ja sehr wundern, wenn sie auch bei uns rückläufig wären. Es wäre aber beruhigend, wenn wir an einem Punkt mal nicht an der Spitze des Blödsinns marschierten, sondern einfach dem gesunden Menschenverstand die Ehre gäben.

JE

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Achtung, Störung aus dem Westen!

Robert Doisneau
aus nzz.ch, 11.12.2014, 05:30

ADHS als kulturelle Pandemie
Zappelphilipp, eine Karriere

von Manfred Schneider 

Gibt man bei Amazon in die Suchleiste für Bücher die vier Buchstaben ADHS ein, so erhält man gegenwärtig 1382 Angebote, die eine Beschreibung, Erklärung oder auch Therapie für die seit 25 Jahren gehäuft diagnostizierte «Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität» enthalten. Die gleiche Suchleiste für die englischsprechende Leserschaft bietet unter der dort üblichen Abkürzung ADHD rund 7000 Buchtitel. In Italien stellt der gleiche Anbieter 437 Druckwerke zum Thema bereit, in Frankreich sind es nur 160, während die Japaner in 666 Titeln Aufklärung und Hilfe suchen können.

Das ist nur eine Momentaufnahme. Aber die zum Thema veröffentlichten Statistiken zeigen ebenfalls an, dass in Deutschland im Jahr 2011 rund 600 000 Kinder eine ADHS-Diagnose erhielten, während in Frankreich etwa zum gleichen Zeitpunkt nur 200 000 Kinder und Jugendliche unter diesem Krankheitsbild geführt wurden. In Italien war es nicht einmal die Hälfte davon. Das hübsche Wörtchen «Aufmerksamkeitsdefizit» hat in den Jahren seit 1990 gemeinsam mit dem alten deutschen Struwwelpeter-Wort «Zappelphilipp» eine steile Karriere gemacht, wie man der Statistik des Ngram-Viewers von Google entnehmen kann, der die Häufigkeit bestimmter Wörter in deutschsprachigen Büchern von 1800 bis 2000 verzeichnet.

Erstaunliche Dinge

Wie lassen sich diese Daten und diese Unterschiede deuten? Sind die französischen und italienischen Jugendlichen weniger hyperaktiv als die amerikanischen, japanischen und deutschen? Oder sind Eltern und Lehrer in Deutschland gegenüber hyperaktiven Kinder weniger tolerant als die Erzieher in Frankreich und Italien? Oder leiden französische wie italienische Ärzte und Neurologen an einer Störung der Aufmerksamkeit für Aufmerksamkeitsstörungen?

Wer sich ein wenig in der Literatur umschaut, erfährt über die Geschichte dieser Krankheit erstaunliche Dinge. Auf der Website der französischen TDAH-Vereinigung liest man, dass ein Deutscher namens H. Hoffmann diese Krankheit 1845 als Erster beschrieben habe. Hinter dem Namen verbirgt sich der hinreichend bekannte Autor des Struwwelpeter-Buches, der die Geschichte des Zappelphilipps gezeichnet und gereimt hat. Als zweiter Ahnherr der TDAH-Diagnostik wird an gleicher Stelle der Psychiater Désiré Magloire Bourneville angeführt, der um die Wende zum 20. Jahrhundert ein Pionier der Sonderschulbewegung war und 1895 über die Gründung eines Instituts für «enfants idiotes, épileptiques et dégénérés» in Vitry berichtete. Unter dem Titel «Assistance, traitement et éducation des enfants dégénérés» beschrieb er darin vor allem Kinder, die unter «mentaler Instabilität und krankhaften Bewegungsimpulsen» litten, die sie daran hinderten, sich den Regeln der Schulen zu fügen.

Niemand zweifelt daran, dass es solche Kinder gab und gibt. Blicke ich in meine eigenen Zeugnisse, die mir als Sechs- und Siebenjährigem unangepasstes Verhalten bescheinigten, dann lese ich dort «M. kann sich nicht recht in die Schulordnung einfügen» oder «M. stört viel». Kein Neurologe weit und breit, der an mir damals die Bournevilleschen Anzeichen kindlicher Idiotie und Degeneration ablas; von den 1397 deutschen ADHS-Ratgebern war auch noch keiner gedruckt; nirgendwo rührte sich eine hilfreiche Hand, die das Kind mit Ritalin-Tabletten vom Zappeln erlöste. Einzig tadelnde Lehrer- und Elternblicke streiften den Schädel dieses Kindes, worunter (nach heutiger Erkenntnis) die Stirnlappen bei ihrer Tätigkeit schlampten und die Dopaminrezeptoren ihr Unwesen trieben.

Das ist lange her. Es dauerte noch einige Jahrzehnte, ehe aus dem Zusammenwirken von Eltern, Pädagogen, Ärzten und pharmazeutischen Marketing-Genies ein so ungenaues Krankheitsbild errichtet wurde, dass heute durchschnittlich 5 Prozent der (vor allem männlichen) amerikanischen, europäischen und demnächst auch asiatischen Population zu ADHS-Patienten zählt. Diese massenepidemiologische Verwüstung stiftete einmal das ICD-10, ein Klassifikationsschema für alle Arten von psychischen Krankheiten, das die Unesco erstellt hat. Damit wurden die Symptome und Zeichen aller psychischen Krankheiten zu einer pathologischen Weltsprache globalisiert. Jetzt sind alle psychischen Anomalien in allen Winkeln der Erde gleich, und man kann darauf wetten, dass ADHS bald in allen Weltkulturen festgestellt und behandelt werden wird.

Melancholie und Hysterie.

Die grösste globale Wirkung erzielte das DSM IV, das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» der American Psychiatric Association. Dieses Handbuch listet die Symptome der ADHS-Störung in einer Form auf, die ihre Diagnose zum Kinderspiel beförderte. Jetzt können Eltern, Lehrer, Erzieher, Polizisten durch Abhaken von mindestens sechs charakteristischen Symptomen die Diagnose ADHS erheben. Daher stellte der namhafte amerikanische Psychiater Allen Frances, ein Mitverfasser der DSM IV, vor kurzem in seiner Streitschrift gegen die ausser Kontrolle geratenen psychiatrischen Diagnosen fest: «Dies war eine glückliche Fügung für die Pharmaindustrie. Jetzt entsandte sie ihre Vertreter in alle Welt, um Eltern, Lehrer, Ärzte zum Generalangriff gegen ADHS zu rekrutieren.» Seitdem schleppt sich vor allem durch die westliche Hemisphäre ein zerstreutes, hyperaktives Millionenheer von Stirnlappenkrüppeln und Dopamin-Idioten.

Erfahrungen mit Hirn- oder Seelenkrankheiten, die aus getrübten Beobachterblicken hervorgingen, machte die europäische Menschheit bereits in vergangenen Epochen. Im 18. Jahrhundert war es für jeden Intellektuellen Ehrensache, an Melancholie zu leiden. Zu der Zeit verstand man diese Krankheit als Unordnung der Körpersäfte. Doch diese Erklärung des römischen Arztes Galen war durch die Wiederkehr der pseudoaristotelischen Lesart verdrängt worden. Danach hing die Melancholie zwar mit einem Überschuss an schwarzer Galle zusammen, aber sie gehörte auch zur Naturanlage der Helden und Genies. In unseren postheroischen und postgenialischen Tagen bietet Melancholie keine Distinktionen mehr. Vermutlich tritt die Depression ihr kulturelles Erbe an, über die Ähnliches zu sagen wäre (36 000 Buchtitel zum Thema «Depression» unter Amazon.com).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg dann die Hysterie zur weiblichen Modekrankheit empor. Migräne, Ohnmachten und diffuse Ängste zählten jetzt zum neurotischen Repertoire bürgerlicher Frauen. Der eben erwähnte Désiré Magloire Bourneville gab zwischen 1875 und 1897 mit Paul Regnard und Jean-Martin Charcot die «Iconographie photographique de la Salpêtrière» heraus, ein klinisches Bildwerk, das die Hysterie in ihren verschiedenen Ausdrucksformen beschrieb und fotografisch dokumentierte. Ärzte, Frauen, Künstler begeisterten sich für diese Krankheit, und Sigmund Freud verfasste mehrere seiner grossartigen Fallgeschichten über seine hysterischen Patientinnen. Kurz darauf gesellte sich schwesterlich die Symptomatik der gespaltenen Persönlichkeit zur Hysterie, und der 1908 erschienene Fallbericht über Christine Beauchamp «The Dissociation of a Personality» von Morton Prince wurde zu einem vielgelesenen Buch. Nicht nur einfache, sondern vierfache und achtfache Spaltungen erkannten die Kliniker der Epoche. Diese Spaltungsgeschichten rissen sogar Hugo von Hofmannsthal dazu hin, eine Figur seines fragmentarischen Romans «Andreas oder die Vereinigten» nach diesen Krankheitsbögen zu entwerfen. Aber wo sind die gespaltenen Persönlichkeiten, wo ist die Hysterie heute geblieben? Hysterie lässt sich allenfalls in der gegenwärtigen Mode der ADHS-Diagnostik erkennen, wo Krankheitswahn und Normalitätsbesessenheit einander die Hand reichen.

«Ça n'empêche pas d'exister»

Den literarischen Kult um ADHS beleben nicht nur die 1382 Buchtitel, sondern ebenso der Übereifer mancher Autoren, die sich in Selbstversuchen mit Ritalin, dem Methylphenidat, das häufig bei ADHS verschrieben wird, dopen und darüber berichten. Es klingt nach heroischem Erlebensjournalismus. Dabei genügte es, die klinischen Studien zu lesen, die zu den angeblich leistungsfördernden Effekten des Methylphenidats angefertigt worden sind. In einer 2007 vorgelegten Studie, die die Leistungen von 370 ADHS-Schülern mit und ohne Ritalin-Verordnung über sechs Jahre hinweg miteinander verglich, wiesen Mediziner am Department of Pediatric and Adolescent Medicine der Mayo-Klinik nach, dass die mit Stimulanzien behandelten Kinder nur minimal besser abschnitten als die Gruppe der nichtstimulierten Kinder. Sie schwänzten nur weniger.

Noch einmal: Für ADHS gilt, was der Hysterie-Papst Jean-Martin Charcot Ende des 19. Jahrhunderts zum zweifelnden Sigmund Freud sagte: «Ça n'empêche pas d'exister.» In der Tat: Es gibt Patienten, bei denen ADHS korrekt diagnostiziert wird und denen bisweilen auch mit stimulierenden Medikamenten geholfen werden kann. Aber die Welt, die besorgt und bisweilen verständnislos nach Afrika und auf die Ebola-Epidemie blickt, sollte auch wieder zurückblicken und sich eingestehen, dass es kulturelle Pandemien gibt.
Prof. Dr. Manfred Schneider lehrt deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 2013 ist (bei Matthes & Seitz) sein Buch «Transparenztraum» erschienen. 


Nota. - Der springende Punkt bei allen psychischen Störungen und Erkrankungen ist, dass dort nicht an sich unnormales Verhalten diagnostiziert wird, sondern immer nur ein Zuviel hiervon, Zuwenig davon. Noch der tiefste Irrsinn ist bei genauerem Hinsehen als eine bloße maßlose Übertreibung irgendeiner Verhaltensweise zu erkennen, die an sich ins ganz normale menschliche Repertoire gehört - nur eben in angemessener Dosis und im Gleichgewicht mit soundsoviel anderen Möglichkeiten, die auch noch ins Normalbild gehören. Krankheit, Störung, Abweichung, das sind alles qualifizierende Urteile - die aber sämtlich auf einem quantitativen Maßstab beruhen: zu viel, zu wenig. Und ganz unwillkürlich stellt sich die Frage: wem zu viel, wem zu wenig?

So liegt es auf der Hand, dass das qualifizierende Urteil über Krankhaftigkeit im Bereich des menschlichen Verhaltens in einem ganz andern Umfang kulturell geprägt ist als die Feststellung einer organischen Dysfunktion. Und so wird es bleiben, selbst wenn eines Tages die Messverfahren optimiert und objektiviert wären.
JE