Dienstag, 24. März 2015

Finnland quacksalbert jetzt auch.

aus DiePresse.com, 23.03.2015 | 13:16 |                       

Finnland plant Abschaffung der Schulfächer ab.
Der Musterschüler in der Bildung könnte einen extremen Weg gehen und künftig "Phänomene" statt einzelner Fächer in der Schule unterrichten.

Finnland galt lange Jahre wegen seines hervorragenden Abschneidens bei PISA als Vorbild. Politiker und Bildungsexperten aus aller Welt pilgerten an finnische Schulen. Beim vergangenen Test waren die Ergebnisse nicht mehr ganz so gut, nun macht sich auch der bisherige Musterschüler Gedanken um neue pädagogische Zugänge.

Ein recht radikales Konzept ist die Abschaffung von Schulfächern: Diese sollen in Finnland künftig durch "Themen" ersetzt werden, berichtet der britische "Independent". Rund 70 Prozent der High-School-Lehrer seien dafür schon geschult worden, heißt es. Im neuen System sollen die Schüler nicht mehr einzelne Fachstunden haben, sondern etwas über so genannte "Phänomene" lernen. Zum Beispiel über die Europäische Union: In Bezug auf Wirtschaft, Geschichte, Geografie und Sprachen. Das würde auch das Ende des Frontalunterrichts bringen. Die "Phänomene" sollen in Kleingruppen von den Schülern erarbeitet werden.
Entwurf für ganz Finnland

"Wir müssen unser System überarbeiten, damit unsere Kinder in Zukunft die Fähigkeiten haben, die sie heute und morgen brauchen", sagt Marjo Kyllönen, Helsinkis Schulmanagerin, dem britischen "Independent". Sie wird ihren Entwurf Ende März der Stadtregierung vorstellen. "Der Entwurf wird nicht nur Helsinki betreffen, sondern ganz Finnland einschließen", erläutert sie. Ihr Papier sieht vor, dass die Reform bis 2020 an allen finnischen Schulen umgesetzt sein soll.
Auch in Finnland hätten Lehrer und Direktoren Bedenken gegen eine solch radikale Änderung, berichtet der "Independent". Kyollen empfiehlt, dass der Unterricht von mehr als einem Fachlehrer vorbereitet werden soll - wer das neue System annimmt, soll etwas mehr Gehalt beziehen.
> Bericht im "Independent"


Nota. - Lassen Sie mich raten: Es geht um den Zusammenhang! Durch die Aufsplitterung der Welt in Fächer geht der Sinn für das Ganze verloren. 

Durch die Aufsplitterung der Welt in Phänomene geht dagegen nur der Blick fürs... Ganze verloren.

O!

JE

Montag, 23. März 2015

Bullies und das Menschenbild der OECD.

W. Busch
aus Der Standard, Wien, 23.3.2015

Österreich mit höchster Mobbingrate in Schulen
Einer von fünf Schulbuben zwischen 11 und 15 von "Bullying" betroffen - doppelt so viele wie im OECD-Schnitt, fünfmal mehr als in Schweden

von Lisa Nimmervoll

Wien - Es ist ein unrühmlicher erster Platz, den Österreich im neuesten Report der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einnimmt. Dieser widmet sich "Skills for Social Progress: The Power oft Social and Emotional Skills". Und demzufolge berichtet hierzulande einer von fünf Buben im Alter von elf bis 15 Jahren von zumindest zwei "Bullying"-Erfahrungen in den vergangenen zwei Monaten in der Schule. Mit 21,3 Prozent weist Österreich damit einen fast doppelt so hohen Anteil an Mobbingopfern im Schulumfeld aus als der OECD-Schnitt der 27 untersuchten Länder mit elf Prozent. Die absolut niedrigste Bullying-Rate hat Schweden mit nur vier Prozent.

"Ernstes Problem" mit Langzeitfolgen

Unter "Bullying" versteht man Mobbing in der Schule, also systematische und wiederholte Aggression unter Schülern, seien es verbale durch Beleidigungen, soziale durch Streuen von Gerüchten oder andere Formen öffentlicher Beschämung und Schikanen sowie physische in Form von körperlichen Attacken. Die OECD-Autoren sehen darin ein "ernstes, gesamtgesellschaftliches Problem, das Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben kann."

Anders als zum Beispiel Estland, das mit 20 Prozent Rang zwei der Schulmobbingskala anführt, den Anteil der jungen Mobbingopfer aber gegenüber dem Schuljahr 2005/06 deutlich senken konnte, so wie etwa auch Deutschland, Griechenland und Italien, ist in Österreich die Zahl der Bullying-Opfer sogar noch angestiegen.


Als Gegenmaßnahmen empfehlen die Studienautoren schulische Interventionen, die das Selbstwertgefühl der Kinder fördern, die ihnen helfen, mit Emotionen wie Wut und Aggression umzugehen und die die Resilienz der Schülerinnen und Schüler, also deren psychische Widerstandsfähigkeit, aufbauen und stärken. Dies könne helfen, Bullying, aber auch die langfristigen Gesundheits- und Sozialkosten für die Folgen von Mobbing zu reduzieren.

Cyber-Bullying nicht erfasst

Nicht erfasst in den von der OECD verwendeten Vergleichsdaten von 2009/10 aus der HBSC-Studie (Health-Behaviour in School-aged Children), die von Forschergruppen aus 43 Ländern in Kooperation mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführt wird, sind "neue Formen des Bullying wie Online- und Telefon-Bullying", heißt es im OECD-Bericht. Es wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Online-Bullying zwar weniger verbreitet sei, mitunter aber noch mehr Leid anrichten könne als das Offline-Bullying quasi im "echten" Leben.

Buben signifikant öfter mit Bullying-Erfahrung

Buben berichten übrigens signifikant häufiger von Bullying-Erfahrungen. Laut HBSC-Studie lag der Bullyingopferanteil bei den elf- bis 15-jährigen Mädchen in Österreich bei 13,7 Prozent.

Die OECD, der oft vorgeworfen wird, rein quantitative Vermessungen der Bildungssysteme zu machen, will mit dem Social-Skills-Report den Einfluss sozialer und emotionaler Faktoren auf Bildung, Arbeits- markt und soziale Folgen beschreiben. Eines der Kernargumente lautet: "Kinder brauchen ein ausgewogenes Set an kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten, um ein positives, gutes Leben zu erreichen."

Beim Erlernen dieser "Skills" könnten Lehrer und Eltern den Kindern helfen, indem sie starke, vertrauensvolle Beziehungen aufbauen und ihnen praktische Lernerfahrungen ermöglichen. Der frühen Vermittlung von Social Skills würde zudem eine wichtige Rolle bei der Reduktion von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und sozialen Ungleichheiten zukommen.




Nota. - Ob diese Studie angetan ist, den schlechten Ruf der Bildungsvermessungen zu heben, die unter Anleitung der OECD angestellt werden, werden die Spezialisten noch prüfen müssen. Da ihr Bildungsideal der optimierte Arbeitsmaktgänger ist, ist Skepsis geboten. Da wird unter Bullying wohl einiges erfasst worden sein, was in meiner Jugend lediglich als Flegelei und schlechtes Benehmen gegolten hat. Denn die Rückseite vom OECD'schen Bildungsideal ist die selbstbezogene Heulsuse, die in ihrer freien Zeit nicht eine Minute versäumt, mit sich selber umzugehen (und ihr Bedürfnis zu befriedigen). 

Das einmal abgezogen, bestätigt diese Untersuchung, was der Normalbürger längst weiß und Johann Friedrich Herbart, der Begründer der Erziehungswissenschaft, bereits zu Papier gebracht hat: Der Pausen- hof ist keine Stätte, wo "soziale Verhaltensweisen eingeübt" werden, sondern ein Platz, wo in der unnatür- lichen Zwangspromiskuität einiger hundert Kinder nur all die üblen Neigungen florieren, die Kinder neben ihren erfreulichen Eigenschaften schließlich auch noch haben. Sobald man etwas Besseres gefunden hat, sollten die Schulen schleunigst abgeschafft werden.
JE

Mittwoch, 18. März 2015

Ganztagsschule macht kurzsichtig.


Das war bekannt, dass Stubenhocken und Stillesitzen den Geist verdunkeln. Jetzt erfahren wir, dass es auch kurzsichtig macht:

aus Die Presse, Wien, 19. 3. 2015

Augenlicht braucht Licht: 
Kinder, hinaus!
Die Kurzsichtigkeit greift um sich, vor allem in Ostasien grassiert sie. Das liegt nicht am vielen Lesen, sondern vermutlich daran, dass junge Menschen nicht mehr genug im Freien sind.

von Jürgen Langenbach

„Wenn die Kurzsichtigkeit sich festsetzt, sollte ein Ortswechsel verschrieben werden, am besten eine Seereise.“ Das empfahl 1904 Edward Juler, ein britischer Augenchirurg. Inzwischen setzt sich dieses Leiden epidemisch fest, es trifft etwa die Hälfte der Jungen in Europa und den USA, und in Ostasien grassiert es kaum glaublich: In China, wo vor 60 Jahren noch zehn bis 20Prozent kurzsichtig waren, sind es unter den Teenagern 90Prozent, und in Seoul in Korea sehen gerade noch 3,5Prozent der jungen Männer im Alter von 19 gut.
In diesem Alter ist alles entschieden. Kurzsichtigkeit (Myopie) kommt daher, dass der Augapfel zu sehr in die Länge wächst, das Licht ist dann nicht auf der Retina fokussiert, sondern vor ihr. Das entwickelt sich im Schulalter, dann wächst das Auge noch. Aber warum zu sehr? Die Gene spielen mit, man weiß es von Zwillingsstudien, aber die Gene sind nicht alles: 1969 bemerkte man an Inuit in Alaska, dass von 131 untersuchten Erwachsenen zwei kurzsichtig waren. Aber von ihren Kindern und Enkeln war es mehr als die Hälfte, so rasch mutieren Gene nicht, es musste an der Umwelt liegen.


Den üblichen Verdacht formulierte als Erster Johannes Kepler, er führte sein schwaches Augenlicht, mit dem er kaum Sterne beobachten konnte, darauf zurück, dass er sich für seine mathematischen Studien zu intensiv in Bücher vertieft hatte. Das hält sich bis heute, es hat sich auch bestätigt, etwa in Israel, wo strengreligiöse Kinder, die sich ausgiebig in heilige Texte vertiefen, häufiger unter Myopathie leiden. Inzwischen sind zu den Büchern die elektronischen Zauberkästen hinzugekommen, und vor allem in Ostasien ist der Druck auf Kinder enorm, sie lernen auch zu Hause stundenlang.

Lesen? Ja, aber nicht drinnen!

Aber 2007 weckte eine Studie erstmals einen anderen Verdacht: US-Augenärzte begleiteten eingangs acht- bis neunjährige Kinder mehrere Jahre lang, sie fragten zufällig am Rande auch, wo die Kinder ihre freie Zeit verbringen. Die Antwort darauf wies auf einen einzigen Faktor, der darüber entschied, ob Kurzsichtigkeit kam oder nicht: Bei Kindern, die viel im Freien waren, war das Risiko viel geringer. Das bestätigte sich in Australien: Es geht nicht um das Lesen, es geht um das Licht, auch bei Kindern, die ihre Bücher im Freien schmökerten, war das Risiko geringer. Später zeigten Tierversuche – an Hühnern – das Gleiche.

Wie das? Wieder halfen die Hühner im Experiment: Vermutlich läuft es über den Neurotransmitter Dopamin, der wird im Auge produziert, er blockiert die Verlängerung des Augapfels. Aber er wird nur im hellen Licht produziert: Myopieforscher Ian Morgan (University of Canberra) schätzt, dass Kinder mindestens drei Stunden am Tag 10.000 Lux brauchen, die herrschen an einem Sonnentag unter einem schattigen Baum; im Hausinneren, auch in Schulzimmern, sind es kaum mehr als 500 (Nature 519, S.276).

So weitsichtig war Juler vor über 110 Jahren, und in Taiwan hilft es heute, dass an manchen Schulen die Kinder 80 Minuten ins Freie geschickt werden. Aber nicht überall können sie so hinaus. Deshalb experimentieren manche Städte in China schon mit Klassenzimmern, die rundum verglast sind.


Nota. -  Wer schon jubiliert hat, mit dieser Meldung sei der Freiheit ein Lanze gebrochen, der hat nicht mit der chinesischen Volksrepublik gerechnet; dort werden sie die Kinder in gläserne Treibhäuser stecken, und wetten, dass hiesige fortschrittsorientierte Bildungsreformer auch dafür noch ein erziehungswissenschaftli- ches Argument finden werden?
JE

Dienstag, 3. März 2015

Schon wieder umsonst gequacksalbert.

aus Die Presse, Wien, 3. 3. 2015

Expertenbericht: Die NMS ist nicht besser als die Hauptschule
Der lange erwartete Evaluierungsbericht der Neuen Mittelschule zeigt, dass das Konzept nur dort funktioniert, wo die Lehrer besonders engagiert sind.

von Julia Neuhauser  

Mit einer mehr als vierwöchigen Verspätung – die viel Raum für Spekulationen ließ – wurde gestern, Dienstag, der politisch brisante Evaluierungsbericht der Neuen Mittelschule von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) vorgestellt. Sie präsentierte die Ergebnisse aber nicht der Öffentlichkeit, sondern der aus SPÖ- und ÖVP-Politikern zusammengesetzten Bildungsreformkommission. Der „Presse“ liegt dieser Evaluierungsbericht exklusiv vor.


Für die NMS bringt die Überprüfung ein ernüchterndes Ergebnis: „Insgesamt gibt es keinen belastbaren Hinweis, dass das Niveau der NMS im Durchschnitt über jenem vergleichbarer Hauptschulen liegt. Vielmehr besteht Zweifel, ob dieses an allen Standorten tatsächlich erreicht wird“, heißt es in der Kurzfassung des 390 Seiten umfassenden Berichts. Ein vernichtendes Urteil. Denn immerhin wird in die Neue Mittelschule deutlich mehr Geld investiert als in die auslaufende Hauptschule.


Häufig mangelhafte Umsetzung

Zu dem ernüchternden Ergebnis kommen die Experten durch einen Vergleich der Leistungen bei den Bildungsstandards. Die NMS erzielt dabei in Mathematik einen Mittelwert von 496,7 Punkten, die Hauptschule 515. Selbst nach Berücksichtigung der sozialen Zusammensetzung – also Bildung der Eltern, Migrationshintergrund und Umgangssprache – erzielen die Hauptschulen ein besseres (wenn auch kein signifikant besseres) Ergebnis. Auch bei den Lesekompetenzen in Englisch schneidet die Hauptschule besser ab als ihr Nachfolgemodell. Rechnet man in diesem Fall die soziale Benachteiligung heraus, dann liegt diesmal aber die Neue Mittelschule knapp vorn. Ein Eindruck bleibt: Von den klar erhofften Verbesserungen ist nichts zu sehen.


Und zwar nicht nur, wenn man die Schulformen in ihrer Gesamtheit miteinander vergleicht, sondern auch, wenn man die Entwicklung an den einzelnen Schulstandorten unter die Lupe nimmt. Der Vorher-Nachher-Leistungsvergleich bringt kein eindeutiges Ergebnis. Es zeigt sich, dass die erste Generation – also jene Schulen, die sich im ersten Jahr zu einer Umwandlung entschieden haben – ihre Leistung klar verbessern konnte. Schon die zweite Generation kann an den Erfolg nicht anknüpfen. Die Schülerleistungen in Deutsch und Englisch haben sich an diesen Standorten zwar verbessert, die in Mathematik aber sogar verschlechtert.


Das zeigt das Kernproblem der NMS: Sie funktioniert nur dort, wo die Lehrkräfte tatsächlich bemüht sind, die neuen Lernformen einzusetzen. „In der ersten Generation der NMS bzw. in den ,Modellklassen‘, in denen das NMS-Konzept intensiver umgesetzt wurde, zeigen sich interpretierbare Leistungsverbesserungen“, heißt es dazu im Bericht. Es gibt aber nicht viele solcher Klassen. Denn laut Experten wurde das Konzept an mehr als der Hälfte der untersuchten NMS-Standorte „nur unzureichend“ umgesetzt.



Nota. - Dass diese Reform - wie die vorigen - nur da was bringt, wo sich die Lehrer besonders einsetzen, hätten wir euch vorher sagen können; ach was, haben wir euch vorher gesagt. Macht's doch einfach mal so: Sorgt dafür, dass sich die Lehrer überall besonders einsetzen. Dann kann eigentlich nichts schiefgehen.
JE

Sonntag, 1. März 2015

Das Märchen von den neuen Formen des Zusammenlebens.

aus Süddeutsche.de, 1. März 2015, 09:14                                                                                       heyplusyou

Vater, Mutter, Krise
Patchwork? Kein Problem mehr, oder? Was längst gesellschaftlich akzeptiert ist, ist allerdings besonders anfällig: Die Hälfte der Beziehungen geht kaputt.

von Hannah Wilhelm

Sie haben Hänsel und Gretel in den Wald geschickt. Sie wollten Schneewittchen vergiften und haben Aschenputtel putzen lassen. Stiefmütter sind, das weiß jedes Kind, hinterhältig und böse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie heutzutage Bonus-Mütter genannt werden.


Lange wurde das Phänomen Patchwork romantisiert, also Familien, in denen mindestens ein Partner ein Kind aus einer früheren Beziehung mitbringt. Weil es bei Demi Moore und Ashton Kutcher so hübsch aussah. Und bei Christian Wulff und seiner Frau Bettina auch. Vor allem aber, weil kein Problem sein durfte, was längst gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist.


Deutschlands Familienberatungsstellen und Therapeuten sehen das anders: Geschätzt die Hälfte der neuen Beziehungen geht wieder kaputt - die Trennungswahrscheinlichkeit ist damit höher als unter Paaren in erster Ehe. Kein Zufall also, dass sowohl Demi Moore und Ashton Kutcher als auch die Wulffs wieder getrennt sind.


Besonders heikel ist die Konstellation, so die Experten, wenn ein Mann mit Kindern mit einer neuen Frau ohne Kinder zusammenkommt. "Es ist schwieriger, wenn einer von beiden kein Kind und damit weniger Verständnis hat für das Leben mit Kindern", erklärt Therapeutin Andrea Müller, die in der Nähe von München Patchwork-Familien berät. Zudem machen die Ansprüche der Gesellschaft an eine Stiefmutter sowie ihre eigenen eben jene Konstellation so schwierig. Denn die Ansprüche sind hoch. Zu hoch. "Ganz oft nehmen sich die Beteiligten vor, nun alles richtig zu machen, nachdem beim ersten Mal etwas schiefgegangen ist", sagt Andrea Müller.


Stiefmütter haben es oft schwerer als Stiefväter

Nicht selten wird der Stiefmutter die Schuld für viele Probleme in die Schuhe geschoben. Sie war doch schon bei Aschenputtel die Böse. Katharina Grünewald ist selbst Stiefmutter zweier Kinder und berät als Psychologin in Köln betroffene Familien. Sie findet: Stiefmutter zu sein ist ein ziemlich schwieriger Job in einer ziemlich schwierigen Situation. "Eine Stiefmutter soll die von der Trennung geschädigten Kinder lieben und retten. Und von einem Moment auf den anderen Mutter sein, auch wenn sie das vorher nicht war", sagt sie. Die enormen Ansprüche liegen daran, dass unsere Gesellschaft grundsätzlich die Rolle der Mutter übermäßig romantisiert. So wird auch von einer Stiefmutter plötzlich viel verlangt.


Für die Stiefväter gilt das weniger. Deshalb fühlen sich diese oft weniger belastet, weniger unter Druck als eine Stiefmutter. Kümmert er sich, finden das alle Umstehenden bewundernswert. Kümmert er sich nicht, gibt es dafür auch Verständnis. Diese Freiheit hat eine Stiefmutter nicht.


Der neue Mann an ihrer Seite, der Vater der Kinder, möchte eine "normale Familie" leben und seinen Kindern auch eine solche bieten mit Zoobesuchen, Spieleabenden, Urlaubsplänen. Schließlich hat er nur seine Frau verlassen und nicht seine Kinder. Und dieses Mal soll es bitte gut gehen. "Die unausgesproche- nen und ausgesprochenen Erwartungen machen es so schwer", sagt Katharina Grünewald. Der Vater wünscht sich, dass seine Partnerin mitspielen und die Kinder genauso wichtig und toll finden soll wie er. "Grundsätzlich ist das Bild der armen Kinder sehr stark. Dagegen kann sich kaum eine Stiefmutter wehren", sagt Grünewald. Die Kinder gehen vor. Und viele Frauen überfordern sich und stellen ihre Bedürfnisse zurück.


Die Euphorie der Stiefmütter überfordert die Kinder meist


Sonja zum Beispiel, die noch bis vor vier Wochen alleine lebte, zieht ruckzuck mit Robert zusammen. Sie macht jeden Tag mit seiner achtjährigen Tochter Johanna Hausaufgaben, statt Freunde zu treffen, und organisiert eine überdimensionierte Geburtstagsfeier für die Kleine. Sechs Stunden bastelt sie an einer Torte voll mit Marzipan-Prinzessinnen. Als alle Freundinnen da sind, sagt Johanna laut: "Von der Torte esse ich nichts, die ist von der da und nicht von meiner Mama." Die Euphorie der Stiefmütter überfordert die Kinder meist.


Die Kinder wünschen sich häufig ihre Familie zurück. Sind sie beim Papa, fehlt die Mama. Und andersherum. Haben sie miterlebt, wie etwa die Mutter unter der Trennung leidet, bringt sie Papas neue Freundin in Loyalitätskonflikte. "Viele Kinder haben das Gefühl, sie dürfen sich etwa nicht mit der neuen Frau ihres Vaters verstehen, weil sie damit ihre Mutter verraten", erklärt Grünewald. Daher glauben sie, sich von der Stiefmutter distanzieren zu müssen, gerade dann, wenn sie etwas Nettes getan hat. Wie eine Torte zu backen.



Nota. - Das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern, der Umstand, dass einer den andern auf die Welt gebracht hat, ist schicksalhaft und einzigartig. Es mag ein jeweils gutes oder schlechtes sein - auf jeden Fall wird es dauern, ein Leben lang. Daran können die Zeitgeister nichts ändern. Lebensabschnitts- partnerschaften dagegen müssen nicht dauern, es steckt von Anfang an ein Zweifel und ein Vorbehalt darin.

Eltern-Kindschaft und Lebensabschnittspartnerschaften haben eine unterschiedliche Statik und eine unter- schiedliche Dynamik. Beide durcheinander rühren kann nie zu einer Normalität führen.

JE