Samstag, 20. August 2016

Die Jagd nach dem Durchschnitt verschärft die Ungleichheiten.

aus Die Presse, Wien, 12.07.2016

Klasseneinteilung verstärkt Klassenunterschiede
Welche Kinder kommen in welche Volksschulklasse? Ein wesentliches Kriterium ist das Religionsbekenntnis, besagt eine aktuelle Studie.

Die soziale Durchmischung in den Volksschulen ist in Österreich gering. Das liegt allerdings nicht nur an den unterschiedlichen Voraussetzungen wie der Wohngegend oder dem Schulprofil. Denn wenn neue Klassen gebildet werden, können die Differenzen laut einer Studie sogar noch einmal verschärft werden, weil Kinder nach ihrem sozialen Status verteilt werden.

Bei der Entscheidung über die Zusammensetzung der ersten Klassen "treten an verschiedenen Schulen unterschiedliche Kriterien in den Vordergrund" , schreiben Michael Sertl und Claudia Leditzky (beide Pädagogische Hochschule Wien) in einer aktuellen Studie, die sie in der Zeitschrift "Erziehung & Unterricht" veröffentlicht haben. Zwei Kriterien sind allerdings laut der Erhebung dominant: Ganz im Sinne der in Österreich vorgeschriebenen Koedukation bemühen sich Schulleiter um ein möglichst ausgewogenes Verhältnis von Burschen und Mädchen, das zweite wesentliche Kriterium ist aber bereits das Religionsbekenntnis.

Trennung auch aus organisatorischen Gründen

Selbst wenn dadurch nur die Erstellung des Stundenplans erleichtert werden soll, führt die Aufteilung der Schüler nach ihrer Religion fast zwingend auch zu Klassen, in denen Kinder mit deutscher Muttersprache und einer gewissen Bildungsaffinität überrepräsentiert sind, während in anderen Klassen solche Schüler fehlen. An manchen untersuchten Schulen wurden sogar bewusst Kinder mit derselben Muttersprache in Klassen zusammengefasst, damit leichter Gruppen für den muttersprachlichen Unterricht gebildet werden können.

Es geht aber auch anders: So berichteten Schulleiter, dass sie Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache ganz bewusst möglichst gleichmäßig auf alle Klassen verteilen, um Ghettobildung vorzubeugen.

Bildungsaffine Eltern suchen spezielle Konzepte


Ein weiterer Grund für fehlende soziale Durchmischung sind Schulen mit bestimmten Schwerpunkten wie Zweisprachigkeit oder speziellen pädagogischen Konzepten: Indem vor allem Eltern aus der bildungsbewussten Mittelschicht - und zwar auch aus anderen Schulsprengeln - dorthin drängen, kommt es zu Konkurrenz- und Verdrängungseffekten beim Wettbewerb um die wenigen Schulplätze an diesen Einrichtungen.

Dasselbe passiert, wenn es an einer Schule Schwerpunkt- und Schulversuchsklassen gibt - auch hier kann sich die soziale Zusammensetzung auffallend von jener der anderen Klassen unterscheiden. Zu einer Homogenisierung können außerdem die - je nach Schulleitung mal mehr, mal weniger stark berücksichtigten - Wünsche der Eltern führen, dass ihr Kind dieselbe Klasse wie (Kindergarten-)Freunde besuchen soll.

Schulleiter bemühen sich


Gleichzeitig geben in der Studie viele Schulleiter an, sich um eine "möglichst große Ausgewogenheit und Balance der Ungleichheiten" zu bemühen: So werden ehemalige Vorschüler in der Regel gleichmäßig auf die verschiedenen ersten Volksschulklassen verteilt; dasselbe gilt für Schüler, die im Aufnahmegespräch als "unkonzentriert", "noch nicht altersadäquat" oder "leistungsschwach" aufgefallen waren. "Trotz dieser Bemühungen auf Seiten der Schulleiterinnen/Schuleiter und des wohl mitbestimmenden Kollegiums kann nicht ganz verhindert werden, dass bei der Klassenbildung die unterschiedlichen Voraussetzungen, die schon zu eklatanten Differenzen zwischen den Schulstandorten führen (Wohngegend, Schulprofile, usw.) noch einmal verschärft werden."
(APA)



Nota. - Nirgends sei der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg der Kinder so groß wie bei uns in Deutschland, lesen wir immer wieder. Und immer klingt es so wie: nirgends ist der Zynismus größer. Aber wer ist der Schuldige? Irgendwo muss die böse Absicht sich doch verborgen halten! Es gibt gar keine böse Absicht. Es liegt daran, dass die Schule eine bürokratische Massenveranstaltung ist, in der tausend Rädchen ineinandergreifen, und wer nach einer Stellschraube sucht, an der er das ganze System justieren kann, erntet regelmäßig andere Ergebnisse als beabsichtigt. 

An die seligierende Wirkung der Stundenpläne im Verein mit der Religionszugehörigkeit beispielsweise hatten sie in Österreich nicht gedacht, denn die haben sie ja gar nicht an und für sich - etwa für katholische und evangelische Kinder -, sondern nur, weil die muslimischen Kinder zur untersten Sozialschicht gehören. Demnächst wird man darauf achten und die Schulklassen nach muttersprachlich einheitlich durchmischen. Welche systemischen Auswirkungen das haben kann, ist vorab gar nicht absehbar, weil man nicht weiß, welche Parameter überhaupt berührt werden. Da kann man nur beten, dass nicht schon wieder eine Minderheit benachteiligt wird. 

An der Auswirkung der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg wird auch in Deutschland natürlich schon lange gequacksalbert. Aber so ist das nunmal mit bürokratischen Reformen: Was du mit den Händen reparierst, reißt du mit dem Hintern wieder ein.
JE

Montag, 15. August 2016

"Den Physikunterricht entschlacken."

Big Bang (Schema)

aus Tagesspiegel.de,11.08.2016 13:13 Uhr

Experten wollen Physik in der Schule entschlacken
"Viele Physik-Lehrpläne sind überfrachtet": Die Deutsche Physikalische Gesellschaft fordert eine Reform des Unterrichts in der Schule. Das soll das Fach beliebter machen.

von Tilmann Warnecke

„Weniger rechnen, mehr denken“: So stellt sich die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) eine Reform des Physikunterrichts in der Schule vor. Der Unterricht müsse „die Illusion einer vollständigen Vermittlung aller Aspekte der Physik aufgeben“, heißt es in einer DPG-Studie, auf die der Verband jetzt hinweist. Die Stofffülle solle reduziert werden, die Lehrkräfte besser beispielhaft in die Tiefe gehen: „Viele Lehrpläne sind überfrachtet.“

Physik gehöre zu den unbeliebtesten Fächern überhaupt – so steht es sogar in der Studie der DPG. Um das zu ändern, müssten im Unterricht schülernahe, gesellschaftlich relevante Kontexte vermittelt werden: „Die Inhalte müssen an die Erfahrungswelt der Jugendlichen anknüpfen.“ Das werde aber kaum gelingen, halte man am „Vollständigkeitsgedanken“ fest. Viele physikalische Phänomene könnten auch ohne streng mathematische Formulierungen verstanden werden, was Schülerinnen und Schülern den Zugang erleichtere.

Die Experten denken an einige zentrale Basiskonzepte, die sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Jahrgangsstufen ziehen sollten: Wellen, Kräfte, Energie und Materie. Das Experimentieren und eigene Formulieren von Hypothesen solle im Unterricht im Vordergrund stehen.

Erwartungen an den Physikunterricht herunterschrauben


Die DPG versucht, die Erwartungen an den Physikunterricht herunterzuschrauben. Wenn Lehrkräfte denken, sie müssten Schüler auf ein Physikstudium vorbereiten, würden sie sich irren: „Die Hochschulen erwarten nicht, dass Studienanfänger mit einer umfassenden, fachsystematisch strukturierten Physikausbildung zu ihnen kommen.“ Auf keinen Fall dürfe die Begabtenförderung die Vermittlung einer guten naturwissenschaftlich-physikalischen Allgemeinbildung möglichst vieler Schüler behindern. Physik-Talente könnten auch in speziellen AGs gefördert werden, oder indem sie bei Wettbewerben unterstützt werden.

Die DPG fordert auch eine Vereinheitlichung der Stundenzahl für Physik in den Bundesländern. Diese schwanke derzeit zwischen 167 und 280 Schulstunden in der Sekundarstufe I. Der DPG schweben für die fünf Jahre dieser Stufe insgesamt zehn Wochenstunden vor. In der Oberstufe solle es einen verpflichtenden Grundkurs mit vier Wochenstunden geben. Benötigt würden zudem mehr junge Physiklehrkräfte: Knapp die Hälfte aller Physikunterrichtenden sei älter als 50 Jahre.


Nota. - Ausnahmsweise geht es nicht - will ich doch hoffen - darum, den Schülern das Lernen zu erleichtern, indem man das Zu-Lernende verseichtet, sondern sie zum Lernen zu verlocken, indem man den Stoff anschaulich macht - denn bevor das physikalische Geschehen berechnet werden kann, muss es verstanden, und das heißt: vorgestellt werden. Ob das bei den Experten in guten Händen ist? Ich könnte mir denken, dass die Physiker das besser verstehen als die Erziehungswissenschaftler (weil es nämlich um Stoff geht und nicht um Methoden).
JE


die Erde im gekrümmten Raum

Brief über den Physikunterricht 
an Prof. Hubert Markl,
Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
Berlin, den 11. 9. 2000
Sehr geehrter Herr Professor Markl,

…Meinerseits habe ich Ihre Ansprache zur Jahreshauptversammlung [der Max-Planck-Gesellschaft] aufmerksam gelesen. Und bin natürlich an Ihrer Klage über den Mangel an naturwissenschaftlichem Nachwuchs gestolpert, denn der Stolz meines Schulprojekts [in Fürstlich Drehna] ist doch, daß ich den Zugang zur Cyberworld über das Ästhetische gewählt habe – und gerade nicht über Technik und Naturwissenschaft. Wäre da ein Widerspruch?

Ich glaube nicht, das Problem bestünde darin, daß die Schüler irgendwann die „schwierigen“ Fächer abwählen dürfen. Sondern darin, daß der naturwissenschaftliche Unterricht, den sie bis zu diesem Zeitpunkt genossen haben, so war, daß sie es wollenDaß die Menschen Interesse nur an dem finden, was "Spaß" macht, sagen bloß pädagogische Versager: Seit unsern Anfängen am Turkana-See ist das noch nie so gewesen. Warum sollte es über Nacht so geworden sein?

FormelEs trifft sich vorzüglich, daß Sie in Ihrer Ansprache den Akzent auf die Astrophysik legen. Noch immer habe ich während meiner Berufstätigkeit – als Sozialpädagoge! – für Furore gesorgt, wenn ich den Zehn- bis Vierzehnjährigen von Sonne, Mond und Sternen, Schwarzen Löchern und Quasaren erzählte (in meinen besten Tagen gerade auf dem Niveau von Bild der Wissenschaft). Da haben selbst Quälgeister Maul und Ohren aufgesperrt. Aber – es sollte mich wundern, wenn nur einer von denen, als es so weit war, Physik nicht abgewählt hätte!

Wie paßt das zusammen? Sie selbst haben das Lösungswort gesagt: Sie reden von "eigentlich unvorstellbaren Vorstellungen"! Und war es das, womit die Schüler in Klasse 7 bis 10 konfrontiert worden waren? Bestimmt nicht. Was ihnen geboten wurde, war nicht nur vorstellbar, sondern war ihnen von fremden Leuten längst fix und fertig vor-gestellt worden – damit sie’s "behalten" sollten. Es ist aber nicht so, daß man zuerst "Fakten" sammelt und sich hinterher ein "Bild" daraus zusammensetzt, sondern genau umgekehrt. Wie in der Geschichte der Wissenschaft, so in der Bildungsgeschichte der Personen. Mit andern Worten, die Kinder müssen zuerst die Abenteuer des Denkens kennen lernen und den thrill des Noch-Unbestimmten, ehe sie "memorieren"; weil man nämlich die Fakten gern vergißt, solange sie nichts bedeuten. Das Staunen ist der Anfang der Philosophie, nicht das Addieren von Kenntnissen.  ...
JE


schwarzes Loch

Samstag, 13. August 2016

Jungens stark machen.

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aus Süddeutsche.de, 12. August 2016, 09:16 Uhr

Wie Jungen zu Mobbingopfern und dann zu Tätern werden

Seit dem Amoklauf in München wird wieder mehr über Mobbing gesprochen. Vor allem viele Jungen reagieren auf Kränkungen mit totalem Rückzug oder Aggression.

von Wolfgang Schmidbauer

In der Verbindung mit dem Gespenst des Schüler-Amoklaufs hat der Begriff des Mobbing neue Aktualität gewonnen. Viele Täter, so heißt es, seien Mobbingopfer gewesen. Der junge Mann, der in München neun Menschen erschoss, wurde laut Berichten von Mitschülern schikaniert. Sie urinierten auf seine Kleider, misshandelten ihn, nahmen ihm Sachen weg.


In der Verhaltensforschung wird mit Mobbing die feindselige Reaktion von Tieren in Gruppen beschrieben. Krähen "mobben" die Eule oder die Katze, die sich ihrer Kolonie nähert, indem sie krächzen und Drohangriffe fliegen. Hühner "mobben" das hinkende, das räudige Huhn. 


Wer die Gefühlsmischungen menschlicher Mobber untersucht, findet die Szene aus der Tierbeobachtung durchaus triftig: Wer mobbt, tut es meist, weil das Opfer seine Erwartungen nicht erfüllt. Es sind primitive Erwartungen, nicht unbedingt niveauvoller als die des Huhns, das den hinkenden Artgenossen hackt: Gemobbte "stören", sie "passen nicht zu uns", sie sollen verschwinden oder müssen passend gemacht werden. 


Frühe soziale Beziehungen prägen das Verhalten in der Schule 

Aber dieses Modell mit seiner schlichten Zweiteilung von Tätern und Opfern wird der Realität selten gerecht. Ob ein Kind befriedigende soziale Beziehungen aufbauen kann oder nicht, hängt von Regelkreisen ab. In der Begegnung mit einer Gruppe beleben sich frühe Erfahrungen. So ist es wichtig, ob sich das Kind in seinen frühen Beziehungen erwünscht und "interessant" gefühlt hat. Es wird sich dann später auch in der Schulklasse für die anderen Kinder interessieren und auf diese zugehen. 


Waren die frühen Beziehungen von Feindseligkeit geprägt, wird ein Kind eher auch die Mitschüler fürchten, sich zurückziehen, Halt in der Anpassung an die Lehrer suchen, andere kritisieren oder verpetzen. Solche Gefühle von Kindern sind nicht zwingend von den Eltern bestimmt. Geschwister und Spielkameraden spielen eine ebenso wichtige Rolle. 


Angst und Agression wecken Gegenaggression 


Die Gefahr eines negativen Regelkreises wächst, je öfter er durchschritten wurde. Wer anderen ohne Charme, mit einer Mischung aus Angst und Aggression begegnet, wird sich nicht beliebt machen, findet keinen Schutz in der Gruppe und weckt Gegenaggressionen. Zu Beginn unserer seelischen Entwicklung können wir Kränkungen nicht ohne heftige Reaktionen von Angst, Wut und Zerstörungswünschen verarbeiten. Die menschliche Kinderstube sollte ebenso wie die Schule dazu beitragen, solche primitiven Reaktionen zu neutralisieren und angemessenere Umgangsformen zu entwickeln. 


Eltern und Erzieher stehen dabei von zwei Seiten unter erheblichem Druck: Sie müssen ihre eigenen Kränkungsreaktionen disziplinieren, können die körperliche Überlegenheit des Erwachsenen nicht mehr ausspielen. Damit geht eine elementare Führungskompetenz verloren, die nur unter günstigen Umständen angemessen ersetzt werden kann. 


Gesetze helfen ihnen dabei wenig. Eine menschlich hochstehende Pädagogik per Vorschrift durchzusetzen, offenbart eine typische Schwäche der Moderne. Sie versucht, das Gute durch ein Gesetz zu schaffen, und erkennt zu spät, dass auf diesem Weg neues Übel entsteht. In der Erziehung ist das beispielsweise der Rückzug vom Kind, die vermiedene Auseinandersetzung, das Beharren auf Empathie in unterschiedlichen Positionen. 


Eltern, die aufgrund günstiger emotionaler und sozialer Bedingungen Zeit und Geduld haben, um mit den Kämpfen zwischen den Generationen fertig zu werden, haben noch nie Vorschriften gebraucht, um sich angemessen ihren Kindern zuzuwenden. Andere, die sich sonst gehen lassen würden, mag das Gesetz zurückhalten. In viel zu vielen Fällen aber führen die Widersprüche zwischen dem Anspruch an eine "gute" Erziehung und den realen Ressourcen der Eltern dazu, dass sich diese von ihren Kindern zurückziehen, sich nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen, sie den professionellen Erziehern in Kindergarten und Schule überlassen, die wiederum überlastet werden. 


In der Medienwelt können unsichere Jungs den Heldentraum leben 

So aber kann sich die Fähigkeit nicht mehr entwickeln, Kränkungen zu verarbeiten, sie als Teil des Lebens zu nehmen, sich nach ihnen wieder zu versöhnen. Die Folgen beklagen die Lehrer. Die Zahl unkonzentrierter, schnell beleidigter, schnell aufgebender, steten Zuspruchs bedürftiger Kinder wächst. Von der Grundschule bis zur Universität schwindet die mittlere Gruppe der einigermaßen angepassten, funktionierenden, weder herausragenden noch unfähigen Zöglinge. Sie schwindet vor allem unter den Jungen. In der Familie, in der Schule, in den Cliquen, in den sozialen Medien wird es immer schwerer, Kränkungen zu verarbeiten. Zu mobben und gemobbt zu werden, einen Shitstorm zu entfachen oder sein Opfer zu werden ist Teil des Alltags von Heranwachsenden. 


Kinder und Jugendliche, die unglücklich und voller Neid auf jene blicken, die sich beliebt machen können und in ihren Cliquen schwimmen wie Fische im Wasser, ziehen sich nun in Medienwelten zurück. Diese entlasten die gekränkte Seele, weil eine unsichere Männlichkeit dort doch noch einen Heldentraum träumen kann - und gleichzeitig die Möglichkeit hat, sich an jenen zu rächen, die schuld sind an sozialen Ängsten und dem quälenden Gefühl, keinen Platz zu finden in der Realität. 


Jungen haben größere Schwierigkeiten mit Gesetzen und Regeln 

Im Münchner Fall hatten die berichteten Quälereien offenbar einen sexuellen Aspekt. Mitschüler sollen David S. als Mädchen geschminkt haben. Das ist wesentlich, denn in seiner großen Studie über den Prozess der Zivilisation hat Norbert Elias minutiös verfolgt, wie die Modernisierung einer Gesellschaft immer auch die Zurücknahme männlich-narzisstischer Dominanz ist. Wo das Faustrecht herrscht, ist der Mann überlegen. Sobald Höflichkeit, Gesetz und Recht regieren, verliert er viel Kraft damit, sich Regeln zu unterwerfen, über die er sich lieber hinwegsetzen würde, während die Frauen sie begrüßen und nutzen. 


Wo es in der westlichen Welt eine gute Schulbildung gibt, haben Jungen schlechtere Noten; sehr viel mehr von ihnen verlassen die Schule ganz ohne Abschluss. Auch in den Fächern, die als "unweiblich" gelten, Mathematik und Naturwissenschaften, bringen Mädchen im Durchschnitt bessere Leistungen. Die Analysen dieses Phänomens haben die populäre These entkräftet, dass die Jungen durch die meist weiblichen Lehrkräfte benachteiligt werden. 


Mädchen bekommen immer schon bessere Zensuren als Jungen


Alle Lehrer, Männer wie Frauen, benoten Mädchen besser; zudem waren die Zensuren der Jungen auch schon vor hundert Jahren schlechter, als das Bildungssystem noch von Männern dominiert wurde. In neutralen Tests unterscheiden sich die Geschlechter sehr viel weniger als in den Schulnoten. Noten spiegeln vor allem den Eindruck wider, den die Schule von der Fähigkeit der Schüler hat, mitzuarbeiten und sich an vorgegebenen Zielen zu orientieren. Sie bewerten die Konzentration während einer Prüfung, das Durchhaltevermögen in der Vorbereitung, die Lernbereitschaft. 


Männer sind Verlierer in einer Arbeitswelt, in der Fleiß und Disziplin bei beiden Geschlechtern gleich gefördert und gefordert werden. Unter diesen Bedingungen zeigt sich, dass sie sich im Durchschnitt schlechter konzentrieren können und schneller aufgeben. Das Problem scheint die Überzeugung zu sein, Jungen müssten sich nicht anstrengen, um Erfolge zu haben. 


Das männliche Selbstgefühl ist empfindlicher und labiler als das weibliche. Das kleine Mädchen hat in den meisten Fällen schon früh einen belastbaren Kern, weil es sich mit der Person identifizieren kann, die in aller Regel die erste ist, der ein Kind begegnet: mit der Mutter. 


Der kleine Junge identifiziert sich ebenfalls mit der Mutter, doch muss er diese Identifizierung später in sich bekämpfen. Daher ist sein Selbstgefühl weniger belastbar. Frauen sind besser gerüstet, aus einer unterlegenen Position das Beste zu machen. Männer haben größere Mühe, Kränkungen ohne den Rückgriff auf primitive Reaktionen wie totalen Rückzug oder wütenden Angriff zu bewältigen. 


Die Angst vor Frauen plagt Männer in unsicheren Situationen 


Die Angst vor Frauen, die ihre Rechte wahrnehmen und sich in einer Welt differenzierter Berufe besser zurechtfinden als sie, plagt Männer überall dort, wo sie sich einer unsicheren Zukunft gegenübersehen. Dies ist beispielsweise in vielen Schwellenländern der Fall. Auch das ist ein Grund dafür, dass die Taliban in Afghanistan, der IS in Syrien und die Anhänger von Boko Haram in Nigeria die Schulbildung für Mädchen wieder abschaffen. Diese Anstrengungen gleichen aber dem Versuch, das Fieber zu heilen, indem man das Thermometer zerbricht. 


Es schafft auch eine untergründige Verwandtschaft zwischen Terroristen, Amokläufern und radikalen Ideologen fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Allen gemeinsam fehlt die Bereitschaft, durch Neugierde die Kluft zu überbrücken, die Männer und Frauen ebenso trennt wie Menschen unterschiedlicher Kulturen. Das fängt in der Schulklasse an: Der einfühlende Umgang mit der Kränkbarkeit des Mitschülers oder der Mitschülerin kann erlernt und geübt werden - oder eben auch nicht. 


Wolfgang Schmidbauer, 75, arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München.2003 veröffentlichte er das Buch "Der Mensch als Bombe. Zur Psychologie des neuen Terrorismus"



Nota. - Ein Löffel Teer kann ein ganzes Honigfass verderben, sagt Lenin. Aber das hier ist kein Honigfass, und an Teer gibt es mehr als nur einen Löffel. Es ist die freudianische Schlaumeierei, die Platitüden wie Paradoxa formuliert. Das fehlte uns gerade noch, dass Jungesein und Mannwerden grundsätzlich als "Opferrolle" ausgeschrien werden! Das sei den Feministinnen überlassen, denn die wollten nie ihr gutes Recht, sondern Schonräume und Vorrechte. Aber bei Schmidbauer nimmt die Opferrrolle noch eine besonders ungute Wendung, die er sich dem Feminismus gegenüber nie erlauben würde - so von der Art: Aber irgendwie sind sie ein bisschen auch selber schuld...Abhilfe würde die 'Zurück-nahme männlich-narzisstischer Dominanz' schaffen! Oder: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen... 

Das Problem ist nicht, dass Jungen von Natur aus dazu neigen, Jungens zu bleiben und Männer zu werden, sondern dass in der postindustriellen Angestelltenzivilisation der weiblich-weibische Phänotyp zum vorherrschenden geworden ist. Herr Schmidbauer, hat Ihnen noch keiner gesagt, dass Mobbing eine ganz charakteristische Frauenpraxis ist? Während Männer gelegentlich mit der Faust auf den Tisch hauen oder auch aufs Nasenbein, gehen Frauen "ganz anders miteinan-der um"! Leider finden sie unter biologischen Männern inzwischen ein Menge Nachahmer. 

Doch seit einiger Zeit mehren sich die Männer, die verstehen, dass man nicht nur Kinder vor der Opferrolle am besten bewahrt, indem man sie 'stark macht', sondern besonders die Jungens. "Jungen haben größere Schwierigkeiten mit Gesetzen und Regeln", schreibt der politisch korrekte Gutmensch. Der gesunde Men-schverstand drückt es anders aus: Jungens neigten schon immer zur Rebellion. Und eine innere Stimme fügt hinzu: So soll es sein. 

JE



Dienstag, 9. August 2016

Auf den Lehrer kommt es an.

aus nzz.ch, 9.8.2016, 11:31 Uhr

Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen
Verhältnis zur Lehrperson zentral
In einer Langzeitstudie hat ein Forscherteam mit Beteiligung der ETH Zürich untersucht, wie sich die Beziehung zur Lehrperson auf das Sozialverhalten von Kindern und Teenagern auswirkt. Dabei bedienten sie sich eines Tricks.
 

(sda)/ni. ⋅ Dass sich eine gute Beziehung zur Lehrerin oder zum Lehrer günstig auf das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen auswirkt, scheint nicht überraschend. Bei all den Einflüssen, denen Kinder ausgesetzt sind, ist der Effekt dieser Beziehung aber nicht ganz einfach nachzuweisen.

Ein Forscherteam unter Leitung der Cambridge University in Grossbritannien und mit Beteiligung der ETH Zürich hat sich dieser Aufgabe gestellt, wie die ETH am Dienstag mitteilte. Für ihre Anfang Juli im «Journal of Youth and Adolescence» veröffentlichte Arbeit verwendeten die Wissenschafter Daten von über 1400 Zürcher Kindern. Diese waren im Rahmen der Langzeitstudie «z-proso» ab ihrem Schuleintritt im Jahr 2004 regelmässig befragt worden.

In den Fragebögen mussten die Kinder unter anderem ihr eigenes Sozialverhalten bewerten und beispielsweise angeben, wie oft sie andere geschlagen, gebissen oder getreten hatten (aggressives Verhalten) oder wie oft sie andere zu trösten versuchten, die traurig waren oder sich verletzt hatten (prosoziales Verhalten). Ausserdem befragten die Forscher die Eltern und Lehrpersonen zum Verhalten der Kinder.

Langzeitbeobachtung wird zum Experiment


Um den Effekt der Beziehung zur Lehrperson auf das Sozialverhalten zu ermitteln, machten sich die Wissenschafter den Lehrerwechsel zunutze, der im Schweizer Schulsystem beim Übertritt von der Unter- in die Oberstufe (vierte Primarklasse) ansteht. Konkret bildeten sie 600 Zweiergruppen von Kindern, die sich vor dem Lehrerwechsel in möglichst vielen der über 100 Parameter ihres Profils sehr ähnlich waren. Allein in ihrem Verhältnis zur Lehrperson unterschieden sich die beiden jeweiligen Kinder – dies aber auch erst in der Oberstufe. Durch diese Übungsanlage wird aus der Langzeitbeobachtung fast ein Experiment (gute Beziehung vs. schlechte Beziehung), dessen Auswirkungen auf das kindliche Sozialverhalten die Forscher in den folgenden Jahren überprüften.

Der Vergleich zeigte einen deutlichen Effekt: Im Durchschnitt verhielten sich die Kinder mit einem guten Verhältnis zur Lehrerin oder dem Lehrer um 38 Prozent weniger aggressiv als ihre jeweiligen Gegenstücke mit einem schlechten Lehrer-Schüler-Verhältnis. Die gute Beziehung stärkte ausserdem das prosoziale Verhalten um 18 Prozent, wie die Wissenschafter berichten.

Andere Faktoren ausgeschlossen

Dank dem gewählten Studiendesign habe man andere Einflüsse weitgehend ausschliessen können, die ebenfalls die Ursache des unterschiedlichen Verhaltens hätten erklären können, kommentiert Ingrid Obsuth von der Cambridge University. Auch dürften sich die Ergebnisse breit verallgemeinern lassen, ist Denis Ribeaud von der ETH Zürich überzeugt. Dafür spreche etwa die Tatsache, dass andere Studien bei jüngeren Kindern zu ähnlichen Resultaten gekommen seien.

Die relativ starke Wirkung einer positiven Beziehung zur Lehrperson überraschte die Forschenden nach eigenen Angaben selber. So trage ein gutes Schüler-Lehrer-Verhältnis mindestens ebenso stark wie die gängigen Gewaltpräventionsprogramme zu einem positiven Verhalten bei, schreibt die ETH. Diese Botschaft gelte es in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer einfliessen zu lassen – denn damit mache man effektive Gewaltprävention. 


Nota. - Dass die Persönlichkeit seines Klassenlehrers große Bedeutung für die Ausbildung der Persönlich-keit eines Kindes hat - kann es etwas Banaleres geben?

So banal ist das gar nicht. Die Schule nimmt viel Platz im täglichen Leben, und also im Heranwachsen der Kinder ein - das ist banal. Und je mehr Platz im täglichen Leben - z. B. am Nachmittag -,  umso mehr Platz im Heranwachsen. Und jetzt erfahren wir - nein, erfahren hatten wir es alle selbst; jetzt bestätigt es die em-pirische Forschung: Nicht die Schule ist es, die diesen Platz einnimmt, sondern es ist der Lehrer.

Zuerst also: Nicht die Schule. Nicht Strukturen, nicht Theorien, nicht Methoden, nicht Regeln; und schon gar nicht, oder allenfalls im Schlechten, die Stundenzahl. Die müssen - so oder so - durch den Lehrer ver-mittelt werden; auf den kommt es an.

Warum? Nicht zuletzt deshalb: Dass Kinder den halben (ach!) Tag lang in großer Masse zusammengesperrt werden, ohne einander bei Bedarf aus dem Weg gehen zu können, ist nicht nur unnormal. Es ist auch schädlich. Akut schädlich: Wir erfahren es seit Jahren täglich aus den Medienberichten über Gewalt, Mob-bing und "Aufrüstung" auf den Schulhöfen. Wenn er gut ist - wenn er gut ist -, dann kann der Lehrer kraft seiner Persönlichkeit den unvermeidlich dissozialisierenden Folgen dieser Zwangspromiskuität entgegen-wirken. Darum ist die Persönlichkeit des Lehrers für das Heranwachsen von Kindern so wichtig. Nämlich in einem präventiven Sinn: zu 38% kann er das Aggressionsniveau senken...


aus einem Kommentar:

...Dem Bild der Führungskraft ziehe ich das Bild des Performing artist vor. Der erwartet nicht, dass die andern seinem Vorbild folgen. Er will Eindruck machen, das schon, weiß aber auch, dass er nur wenig Kontrolle darüber hat, welchen. Er muss es einfach drauf ankommen lassen. Und weiß dabei: Er steht ganz allein auf der Bühne, auf einen Sympathievorschuss seines Publikums kann er nicht rechnen, denn die sitzen alle nicht freiwillig da. - Da braucht man schon breite Schultern.
JE