Freitag, 6. April 2018

Die Idee zu einer Wissenschaft von der Erziehung war eine deutsche; aber eine kritische.

W. Busch

Die Idee, von der Kindererziehung eine Wissenschaft zu machen, war ein spezifisch deutscher Einfall. Er war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die ewig zu spät kommenden Deutschen am Ende des Ancien Régime das Gefühl hatten, erst durch Bildung sich zu einer Nation erheben zu können „wie die andern“.   

Aber mehr noch dem Umstand, dass die Idee, durch Kritik die Wissenschaften überhaupt erst auf den Punkt zu bringen, wo man sie von allen andern Arten des Meinens und Dafürhaltens zuverlässig unterscheiden kann, ebenfalls in Deutschland aufgekommen ist. Die Kritik der reinen Vernunft hatte zu allererst den Zweck, die da- mals aktuellste Form der Naturwissenschaften, die Newton’sche Physik, logisch zu rechtfertigen und gegen die Angriffe der dogmatischen Metaphysik abzusichern; die kritische Sichtung des menschlichen Erkenntnisvermö- gens war dafür zunächst nur das Mittel. Bis an sein Lebensende hat Kant daran gearbeitet, einen Übergang von der Kritik zur positiven Naturwissenschaft zu finden. Demgegenüber sind seine Arbeiten an den geisteswissen- schaftlichen Disziplinen beiläufig und unsystematisch geblieben. Seine Vorlesungen Über Pädagogik waren denn auch tatsächlich nichts Eignes, sondern, wie im Lehrplan der Königsberger Universität vorgeschrieben, ledig- lich ein Kommentar zu einem fremden Werk.*

Unter seinen Anhängern bildete sich aus ein radikaler Flügel aus, der „weitergehen“ wollte – weitergehn in der Kritik und im Wissen seinen letzten Grund dingfest machen; und weitergehen und die vorliegenden wissen- schaftlichen Fächer jetzt schon durch Kritik von den dogmatischen Schlacken reinigen und im Leben zu wirken.

Das war das Programm des Philosophischen Journals einer Gesellschaft teutscher Gelehrter, die seit 1795 von dem Philo- sophieprofessor und Theologen Friedrich Immanuel Niethammer in Jena herausgegeben (und in Neustrelitz gedruckt) wurde, deren Herausgeberkreis von Anbeginn Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schiller, Karl Leon- hard Reinhold, Salomon Maimon und Wilhelm von Humboldt angehörten. Bereits im zweiten Heft erschien von Niethammer selbst eine Übersicht der philosophisch-pädagogischen Literatur seit dem Anfang eines Einflusses der kri- tischen Philosophie auf dieselbe (S. 175-192), die im folgenden Heft fortgesetzt wurde und eine regelmäßige Beschäf- tigung des Philosophischen Journals mit dem Problem einer pädagogischen Wissenschaft einleitete.

Hier ein Zitat:

„Wenn also die Theorie der Erziehungskunst auf den Rang einer Wissenschaft Anspruch haben soll, deren Evidenz der Evidenz anderer philosophischer Wissenschaften gleich wäre, so müßten sich die pädagogischen Maximen aus der ursprünglichen Einrichtung der Gemütsvermögen herleiten lassen. Ob dies möglich sei oder nicht, läßt sich vor der Untersuchung weder beweisen noch widerlegen. Es erhellt aber daraus, daß eine solche Untersuchung möglich sei, welche der Theorie als Propädeutik vor- angehen muß, und der erste Schritt wäre, welche die Theorie tun muß, um zu eigentlich wissenschaft- licher Würde zu gelangen.

Wer sich nur ein wenig mit der Literatur der Pädagogik beschäftigt hat, wird uns zugestehen müssen, 1) daß die Frage, ob und wie die Pädagogik als Wissenschaft möglich sei, noch niemals bestimmt auf- geworfen worden, und daß demnach auch sogar der erste Schritt zu wissenschaftlicher Bearbeitung derselben noch zu tun sei; und 2) daß die unternommenen Versuche, mehrere pädagogische Maximen nebeneinander zu ordnen, die Theorie der Erziehungskunst deswegen nicht zur Wissenschaft erheben konnten, weil sie die Zulässigkeit und Richtigkeit dieser Maximen auf etwas anderes gründeten als auf die Einrichtung unserer Gemütsvermögen.“  Philosophisches Journal, I. Bd., 2. Heft , Neustrelitz 1795; S. 178

Niethammer selbst ist der Nachwelt nicht als Philosoph und Theologe, sondern vor allem als Theoretiker der Pädagogik bekannt geblieben, namentlich als Verfasser der Streitschrift Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) und als Begründer des sog. Neu- humanismus, der dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der kritischen Philosophie aber schon abgewandt.

Und auch Johann Friedrich Herbart kommt von dort. Er war 1794 als einer der ersten Studenten zu Fichte nach Jena geeilt und galt lange als dessen Musterschüler. Viel schneller und viel radikaler als Niethammer hat er dann mit der kritischen Philosophie gebrochen, aber dem Prinzip, dass eine Wissenschaft als ein System aus einem Grunde heraus zu entwickeln sei, ist er treu geblieben. Und durchaus in kritischem Geist hat er seine Allgemeine Pädagogik(1806) 'praktisch' aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet >und nicht 'theoretisch' - wie Niethammer empfohlen hatte - aus der Einrichtung unserer Gemütsvermögen.

Ob er ansonsten seinen systematisch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht geworden ist, ist sehr fraglich, aber gewiss nicht hat der lebenslange Feind der Schule verdient, von den selbsterklärten Herbartianern am Ende seines Jahrhunderts zum Begründer des Pauk- und Memoriersystems der preußischen Volksschule verkehrt zu werden. Seit aber Friedrich Daniel Verschleiermacher mit der Beschwörungsformel "Praxis!" schamlos das Standesinteresse der Berufserzieher zum unvorgreiflichen Rechtsgrund der pädagogischen Tätigkeiten ver- dunkelt hat, war insbesondere in deutschen Landen an einen wissenschaftlich kritischen Blick auf das, was in Schulen, Heimen und sonstigen Anstalten geschah, ohnehin nicht mehr zu denken. "Wissenschaft von der Erziehung" war von da an ein Arkanum, das dem dienstbar ist, der am Hebel sitzt.


Mit andern Worten, das Programm des Philosophischen Journals ist heute noch so taufrisch wie vor hundertzwan- zig Jahren. Wobei sich der Zwiespalt, ob man die Pädagogik theoretisch aus der Beschaffenheit unserer Ge- mütsvermögen oder praktisch aus wohlerwogenen Zwecken ableiten soll, heute womöglich dialektisch auflösen lässt.



*) Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Päd- agogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich da- bei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendi- en ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B.: Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt!

29. 5. 15

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