Sonntag, 1. April 2018

Émile und die Kopernikanische Wende.

Als Doktrin scheint Philosophie garnicht nötig,
sondern als Kritik.
Kant
 
Und dann kam Émile. Immanuel Kants Kritiken gehen unmittelbar auf diesen Anstoß – nein: auf diesen Stoß zurück. Die Aufklärung wandte sich auch hier gegen sich selbst. Kant hatte Jahrzehnte lang selber das Wolff’sche System gelehrt; unzufrieden zwar mit seinen schwachen Gründen, aber wo war die Alternative? Bei Rousseau hat er den Anhaltspunkt gefunden, auf dem die Vernunft neu bauen konnte: das ‚transzendentale Ich’ und seine Freiheit.[15] Das war die „kopernikanische Wende“ der Philosophie, die sich seit Descartes angebahnt hatte: Nicht die Äußerungen eines objektiv Seienden sind Ursache unseres Wissens, sondern die eigenen Leistungen eines Subjekts, dem nichts Gegebenes selbstverständlich ist und das sich seiner guten Gründe auf Schritt und Tritt immer wieder versichern muß. Kants Kritiken schlugen in Deutschland ein wie zuvor der Émile in Europa. Eine systematische Gesamtdarstellung seiner Philosophie ist ihm nicht mehr gelungen, sein Werk liegt in Einzelteilen und Bruchstücken vor.

Halbheiten und Widersprüche blieben da nicht aus und haben sogleich den lebendigsten Teil der akademischen Jugend zum Selberdenken angespornt. Ausgerech-net für die Pädagogik hatte Kant aus seiner Freiheitslehre am wenigsten Konsequenzen gezogen. In seinen eignen Vorlesungen[16] macht er sich zum Echo seines gehässigen Erzfeindes Herder: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht.“[17] 

Die Radikalen unter Kants Anhängern hatten sich um das Philosophische Journal gesammelt, das seit 1795 von Friedrich Immanuel Niethammer, seit 1797 gemeinsam mit Johann Gottlieb Fichte herausgegeben wurde und seinen größten Ruhm, aber auch sein Ende im Atheismusstreit des Jahres 1798/99 finden sollte. Das war die erste wissenschaftliche Publikation, die theoretische Fragen der Pädagogik in Eigenbeiträgen sowohl wie in Rezensionen und Literaturberichten regelmäßig behandelt hat. Dort wurde (m. W. erstmals) aus der offenkundigen Spannung zwischen ‚Freiheit’ und ‚Erziehung’ die Notwendigkeit abgeleitet, Pädagogik zu einer systematischen Wissenschaft zu entwickeln.[18] 

Das neue Interesse an Pädagogik war nicht nur philosophisch. Die geistige Situation Deutschlands wurde durch ein Phänomen geprägt, dessen Spuren wir bis heute tragen: das Aufkommen eines „akademischen Proletariats“ – Sturm und Drang und die Romantik wären ohne das gar nicht denkbar. 

Die deutschen Universitäten entließen weit mehr Absolventen, als das bürgerlich unterentwickelte Land gebrauchen konnte. Die erste Station auf dem Weg des Jungakademikers in eine öffentliche Anstellung – oder in die Verlumpung – war regelmäßig der Posten eines Hauslehrers. Weder Kant noch Hegel blieb sie erspart, und Hölderlin hat sie um den Verstand gebracht. Doch Fichte hatte etwas daraus gemacht. Er war in die Schweiz gegangen und hatte die Gelegenheit genutzt, um die Bekanntschaft Pestalozzis zu suchen. Auf dem Höhepunkt des Atheismusstreits konnte er daher schreiben, eine Philosophie sei „nicht eher vollendet, bis sie pädagogisch wird“.[19] Oder anders, nur als vollendete Philosophie ist Pädagogik zu vertreten! 

Freilich nicht als eine positive Lehre, deren einzelne Sätze als Verhaltensregeln taugen. „Unser philosophisches Denken bedeutet nichts und hat nicht den mindesten Gehalt. Und es ist nicht einmal Mittel, das Leben zu bilden. Es ist lediglich Mittel, das Leben zu erkennen.“ Der Philosophie „Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Ihr Einfluß auf die Gesinnung des Menschengeschlechts ist, daß sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie den Menschen auf seine eignen Füße stellt.“[20] In der Erziehung geht es darum, „die innere Kraft des Zöglings nur zu entwickeln, nicht aber ihr die Richtung zu geben. Die Erziehung muß sich erst bescheiden, mehr negativ zu sein als positiv; nur Wechselwirkung mit dem Zögling, nicht Einwirkung auf ihn.“[21] 


[15] s. Ernst Cassirer, Kant und Rousseau in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, Hbg. 1991 (PhB) 
[16] die so ‚eigen’ allerdings nicht waren; er folgte dabei den Lehrbüchern anderer Autoren. Sie dürften auch vor dem Erscheinen der Kritiken entstanden sein. 
[17] Immanuel Kant, Über Pädagogik, Werke (Hg. Weischedel), Bd. XII, S. 699 
[18] Herr Ritter: Kritik der Pädagogik zum Beweis der Notwendigkeit einer allgemeinen Erziehungswissenschaft in: Philosophisches Journal, Bd. VIII., 2. Heft (Jena 1798); bei dem Verf. handelt es sich wohl nicht um Johann Wilhelm R., der sich damals in Jena aufhielt und dem Kreis um Fichte und die Romantiker angehörte. – Der Herausgeber Niethammer selbst wurde mit dem Pamphlet Der Streit des Philanthropinismus und der Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) zum Begründer des sog. Neuhumanismus, der dann das deutsche Gymnasium beherrschte; da hatte er sich von der kritischen Philosophie schon abgewandt. 
[19] Rückerinnerungen, Antworten, Fragen (März 1799) in: J. G. Fichte, Gesamtausgabe, II. Abt. (Nachlaß) Bd. 5; Stuttgart 1979, S. 125 
[20] ebd . S. 118; 122f. 
[21] J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre in: Philosophisches Journal, Bd. VI (1797); neu:
Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971, S. 507


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