Mittwoch, 4. April 2018

Produktive Einbildungskraft.

Max Ernst  
aus Herbarts Einsicht vom ästhetischen Grund der Erziehung
Das Anschauen, im Gegensatz zum Gefühl,
 ist Tätigkeit. 
J. G. Fichte

Das war das erstemal, daß der Erziehung ein gesellschaftspolitischer Zweck zugemutet wurde, und na- türlich geschah es auf deutschem Boden, in deutscher Sprache. Immerhin, Ort dieser Pädagogik ist der ästhetische Zu- stand, und ihr Medium ist das Spiel – das wär so ein schlechter Ansatz nicht gewesen. Das war es auch nicht, was den von Schiller namentlich in Anspruch genommenen Fichte auf den Plan rief. Erst vor wenigen Monaten hatte er Skandal gemacht, als er – der einzige namhafte Deutsche – die französische Revolution auch nach dem jakobi- nischen Terror noch uneingeschränkt gerechtfertigt hatte.[50] Sollte er sich jetzt als Zeugen für deren Vergeblich- keit aufbieten lassen? Für Schillers Horen verfaßte er eine eigne ästhetische Abhandlung „Über Geist und Buch- stab in der Philosophie“ – die den politischen Streitpunkt nicht hinter dem philosophischen versteckt: Nicht müssen die Menschen erst ästhetisch gebildet werden, um sie zur Freiheit zu befähigen, sondern umgekehrt: Erst müssen sie frei werden – von der materiellen Not zumal, um zu ästhetischer Bildung die Muße zu finden.


„Selbst die Erkenntnis wird zunächst nicht um ihrer selbst willen, sondern für einen Zweck außer ihr gesucht. Mit der Kargheit der Natur haben wir nicht Zeit, bei der Betrachtung der Dinge um uns herum zu verweilen; emsig fassen wir die brauchbaren Beschaffenheiten derselben auf, um Nutzen von ihnen zu ziehen. Das Men- schengeschlecht muß erst zu einem gewissen äußern Wohlstand und zur Ruhe gekommen sein, ehe dasselbe ohne Absicht auf das gegenwärtige Bedürfnis – und selbst mit der Gefahr, sich zu irren – beobachten, bei seinen Beobachtungen verweilen und unter dieser müßigen und liberalen Betrachtung den ästhetischen Eindrücken sich hingeben kann. Wenn es von der einen Seite nicht ratsam ist, die Menschen freizulassen, ehe ihr ästhetischer Sinn entwickelt ist, so ist es von der andern Seite unmöglich, diesen zu entwickeln, ehe sie frei sind; und die Idee, durch ästhetische Erziehung den Menschen zur Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, führt uns im Kreise herum, wenn wir nicht vorher ein Mittel finden, in Einzelnen aus der großen Menge den Mut zu erwecken, niemandes Herren und niemandes Knecht zu sein“.[51]


Anders als Schiller hat Fichte nie eines Fürsten Gunst erworben und hat das Proletarierkind nie verleugnet. Die Lehre von den drei Trieben ähnelte zu sehr den tatsächlichen Klassenverhältnissen – die Arbeit den einen, das Denken den andern; dazwischen, spielend überlegen, der Artist. Zweck der Arbeit und wahrer Reichtum war ihm vielmehr „die Muße, die Allen nach vollbrachter Arbeit bleibt“, denn „in dieser Ruhe Eures Körpers werdet Ihr, so Gott will, durch Langeweile genötigt werden, an Euern Geist zu denken, zu bemerken, daß ihr einen habt“, heißt es noch in seinen letzten Vorlesungen.[52] So unterscheidet sich der Sozialrevolutionär vom Höfling. Schiller hat seinen Aufsatz in den Horen nicht gebracht, Fichte mußte ihn Jahre später im Philosophischen Journal selbst veröffentlichen.[53] 

Ein philosophischer Unterschied war auch da. Fichte hatte die wie in erratischen Brocken verstreut daliegende Kant’sche Kritik in der Wissenschaftslehre radikalisiert und zu einem System gebildet. Die Lehre von den Vermögen war eine Halbheit. „Alle besonderen Triebe und Kräfte im Menschen sind lediglich besondere Anwendungen der einzigen unteilbaren Grundkraft im Menschen“ – die indes nicht als eine bio- oder psychologische Tatsache vor uns liegt: Wahrnehmbar ist immer nur ihre jeweilige Wirkung, und „von dieser schließen wir auf die Ursache im selbsttätigen Subjekt zurück, und lediglich auf diese Weise gelangen wir zur Idee vom Dasein jenes Triebes“ – er wird nicht ‚erkannt’, sondern erschlossen.[54] 

„Der Strenge nach ist aller Trieb praktisch, da er zur Selbsttätigkeit treibt, und in diesem Sinne gründet alles im Menschen sich auf den praktischen Trieb, da nichts in ihm ist, außer durch Selbsttätigkeit.“[55] Solange freilich die Notdurft den Menschen an sein Bedürfnis fesselt, zielt der Trieb nur auf die ‚brauchbaren Beschaffenheiten’ der Dinge, und macht bloß  Erfahrung. „Sowie jene dringende Not gehoben ist und nichts mehr uns treibt, den möglichen Geisteserwerb gierig zusammenzuraffen, um ihn sogleich wieder für den notwendigen Gebrauch ausgeben zu können, erwacht der Trieb nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen. Wir fangen an, unser geistiges Auge auf den Gegenständen hingleiten zu lassen, und erlauben ihm, dabei zu verweilen; wir betrachten sie von mehreren Seiten, ohne gerade auf einen möglichen Gebrauch derselben zu rechnen; wir wagen die Gefahr einer zweifelhaften Voraussetzung, um in Ruhe den richtigen Aufschluß abzuwarten. Wir wagen es, etwas anzulegen an Versuche, die uns mißlingen können. Es entsteht Liberalität der Gesinnung – die erste Stufe der Humanität. Unter dieser ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indes unser Geist sicher ist und nicht über sich wacht, entwickelt sich ohne alles unser Zutun unser ästhetischer Sinn“ – zunächst noch am Leitfaden der Wirklichkeit. Doch schließlich „erhebt sich denn bald die dadurch zum Geist der Freiheit erzogene Einbildungskraft zur völligen Freiheit. Einmal im Gebiet des ästhetischen Triebes angelangt, bleibt sie in demselben, und stellt Gestalten dar, wie sie gar nicht sind, aber nach der Forderung jenes Triebes sein sollten: und dieses freie Schöpfungsvermögen heißt Geist. Der Geschmack beurteilt das Gegebene, der Geist erschafft. Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt.“[56] 

Den Seins-Urteilen des theoretischen Vermögens gehen die Sollens-Urteile des praktischen Vermögens voran. Dem zu Grunde liegt die Urteilskraft – als das Vermögen der qualifizierenden Anschauung. Sie ist schlechthin produktiv: ihren Stoff und ihre Form gibt sie sich selbst; sie ist einbildend. Alles, was wir vorfinden, begegnet uns als Etwas oder als etwas Anderes. Daß es ist, haben wir nicht bestimmt, aber was es ist; und anders ‚gibt es’ gar nichts.

„Die Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze; denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt. Nur die Vernunft setzt etwas Festes – dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixiert. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt.“ Was der reflektierende Verstand als seine Gegenstände vorfindet, ist ihr Produkt: „Sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens und durch dieses Schweben hervor.“ Ohne sie gäbe es für uns keine Wirklichkeit, zu der wir uns verhalten könnten, und insofern ist die Wirklichkeit nicht ‚gegeben’, sondern gemacht. „Im praktischen Felde geht die Einbildungskraft fort ins Unendliche, bis zu der schlechthin unbestimmbaren Idee der höchsten Einheit, die nur nach der vollendeten Unendlichkeit möglich wäre, welche selbst unmöglich ist.“ Nach ihrer äußeren Grenze hin ist die Wirklichkeit daher problematisch. Doch auch von ihrem Grunde her. Die produktive Einbildungskraft ist nichts anderes als die Ichheit selbst, und auch die ist nicht ‚gegeben’, sondern lediglich aus ihren Taten erschlossen: Weil wir wirklich anschauen, müssen wir denken, daß wir es konnten; daß ein Vermögen da war vor der Tat. Aber das ist ein „durch die Spontaneität des Reflexionsvermögens künstlich hervorgebrachtes Faktum“. ‚Wirklich’ ist das Einbilden; das vorauszusetzende ‚Subjekt’ ist ihm nachträglich hinzugedacht. „Das Vorausgesetzte läßt sich nur durch das Gefundne, und das Gefundne läßt sich nur durch das Vorausgesetzte erklären.“[57] 

Das Ich ist keine vorfindliche Substanz; es ‚ist’ überhaupt nur, sofern es einbildet. 

Indes, das alles ist nur Philosophie. Fürs Leben bedeutet es fast gar nichts. Doch gibt es eine Stelle, wo die Philosophie „übergeht“ ins wirkliche Leben, und das ist „die Ästhetik“. Aus dem gewöhnlichen Gesichtspunkt sowohl des Lebens als auch der reellen Wissenschaft erscheint die Welt als gegeben, dem philosophischen Gesichtspunkt erscheint sie als gemacht; „auf dem ästhetischen erscheint die Welt als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir sie machen würden.“[58] Und zwar ist das die Stelle, wo sich die schöne Kunst befindet: Diese „bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüt. Sie macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen.“[59] Und wer wäre empfänglicher dafür als „unsere eigenen Kinder“, indem ihnen „von Natur ein leichter Sinn beiwohnt für das Zeitliche“! [60] So soll man es auffassen, daß die Philosophie vollendet, nämlich pädagogisch wird. 

Dies sei „eine radikale Künstlerphilosophie“, wurde gesagt. „Und die Romantiker verstanden sie und machten Fichte zu ihrem Propheten.“[61] Die Brüder Schlegel waren in seinen Vorlesungen, auch Novalis und Brentano. Und Hölderlin. „Ich bin überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind“, heißt es im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. „Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse, und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.“[62]

[50] Der Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution waren 1793 zwar anonym erschienen, aber Fichtes Verfasserschaft war ein offenes Geheimnis; in: ders., SW Bd. VI
[51] ders., Über Geist und Buchstab in der Philosophie; SW Bd. VIII, S. 286f.
[52] System der Rechtslehre (1812), SW Bd. X, S. 543; 537
[53] in Bd. IX (1798)
[54] Über Geist und Buchstab…, aaO, S. 278f.
[55] aaO, S. 279
[56] aaO, S. 288-291
[57] J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, (PhB) S. 136-139; 145
[58] ders., Wissenschaftslehre nova methodo, Hbg. 1982 (PhB), S. 244
59] ders., System der Sittenlehre, SW Bd. IV, S. 353
[60] ders., 2. Rede an die deutsche Nation, SW Bd. VII, S. 287
[61] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. II; Mchn 1948; S. 501
[62] hier zit. nach: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Ffm. 1961; S. 1015f.  Die Verfasserschaft des ‚Systemprogramms’ ist ein echt romantisches Mysterium. Es ist in der Handschrift Hegels überliefert, aber als Autor kommt nur einer in Frage, der unterm Einfluß Fichtes und des Jenaers Kreises stand – also Hegels Zimmernachbarn Schelling oder Hölderlin. 






 

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