Donnerstag, 12. April 2018

Vorgänger: Heinrich von Kleists romantisches Erziehungsprogramm.


Über das Marionettentheater

Den Dramatiker Heinrich von Kleist – den Verfasser des Zerbrochenen Krugs, des Kätchens von Heilbronn und des Prinzen von Homburg - zählen die Deutschen zu ihren Klassikern. Doch mit seinen Novellen und seinem Erstlingsstück Familie Schroffenstein gesellt er sich der romantischen Bewegung zu. Mögen die Literaturhistoriker streiten – sein berühmtester Prosatext Über das Marionettentheater weist ihn als einen selbständigen und darum besonders starken Denker der deutschen Romantik aus. Auf den ersten Blick liest er sich wie eine paradoxale Kunstphilosophie. Doch wer ein zweitesmal hinschaut, erkennt darin ein ausgewachsenes Bildungsprogramm.

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Als ich den Winter 1801 in M. zubrachte, traf ich daselbst eines Abends in einem öffentlichen Garten den Herrn C. an, der seit kurzem in dieser Stadt als erster Tänzer der Oper angestellt war und bei dem Publiko außerordentliches Glück machte. Ich sagte ihm, daß ich erstaunt gewesen wäre, ihn schon mehrere Mal in einem Marionettentheater zu finden, das auf dem Markte zusammengezimmert worden war und den Pöbel durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz durchwebt, belustigte. Er versicherte mir, daß ihm die Pantomimik dieser Puppen viel Vergnügen machte, und ließ nicht undeutlich merken, daß ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen könne.

K. fragt, wie es zugeht, daß die Mechanik in einem Stück totem Holz der Kunst eines lebendigen Menschenleibes etwas beibringen kann. Er antwortete, daß ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln während der verschiedenen Momente des Tanzes von dem Maschini- sten gestellt und gezogen würden. Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt, es wäre genug, diesen in dem Innern der Figur zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten ohne irgend ein Zutun auf eine mechanische Weise von selbst. Er setzt hinzu, daß diese Bewegung sehr einfach wäre; daß jedesmal, wenn der Schwerpunkt in einer geraden Linie bewegt wird, die Glieder schon Kurven beschrieben; und daß oft, auf eine bloß zufällige Weise erschüttert, das Ganze schon in eine Art von rhythmischer Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre. 

Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach und, wie er glaube, in den meisten Fällen gerad. Dagegen wäre diese Linie wieder, nach einer andern Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders gefunden werden könne als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, das heißt mit anderen Worten: tanzt. 

Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers. Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich auf diesem Felde mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.

K. fragt, worin der Vorzug der hölzernen Puppe gegenüber dem lebendigen Tänzer begründet sei. Herr C. entgegnet, der Vorzug der Puppe wäre, daß sie sich niemals zierte. Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größten Teil unserer Tänzer sucht.
Sehen Sie nur die P. an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne spielt und sich, verfolgt von Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen Sie den jungen F. an, wenn er als Paris unter den drei Göttinnen steht und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.

Solche Mißgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies sei verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
 
Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte durch eine bloße Bemerkung gleichsam vor meinen Augen seine Unschuld verloren und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wiedergefunden. Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren mit einem jungen Manne, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen hervorgerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir gerade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welche Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich in eben diesem Augenblick dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand, dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten.

Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich wie ein eisernes Netz um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.
 
Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C., so sind Sie im Besitze von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien auf der einen Seite eines Punktes nach dem Durchgang durch das Unendliche plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, das heißt in dem Gliedermann oder in dem Gott.

Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? 

Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
  

Quelle: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1965, Bd. II, S. 338-345; zuerst in: Berliner Abendblätter, 12.-15. 12. 1810. Auswahl und Redaktion: J. Ebmeier

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